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Mach mal Feuer, Kleine - Roman

Mach mal Feuer, Kleine - Roman

Titel: Mach mal Feuer, Kleine - Roman
Autoren: Martin Smaus
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draußen. Ihr wahres Zuhause waren die schmalen und steilen Straßen von Žižkov, die Hinterhöfe und Durchgänge zwischen den Häusern, der kleine Park vor dem Fußballstadion Viktoria Žižkov, der Tunnel durch den Berg Vítkov, der in ähnliche, aber deutlich andere Welten von Karlín und Libeň mündete, |30| die von Žižkov durch Eisenbahngleise getrennt waren; oberhalb der Gleise versteckten sich die Kinder im Gebüsch und bewarfen die vorbeifahrenden Züge mit Steinen. Žižkov war aber auch der Lärm und das Geschrei, die aus den verrauchten Kneipen und Spelunken herausquollen, Žižkov, das waren die Grünflächen im Žiďák-Park oder auf dem Parukářka, es war auch die geheimnisvolle Landschaft des Güterbahnhofs, wo verrostete Weichenanlagen und abgestellte Waggons herumstanden. In dieser Welt waren die Dunkakinder zu Hause.
    Dort träumten sie, zerlumpt, verrußt und verdreckt, von weißen Hemden, schwarzen Lackschuhen und Luxuskarossen mit offenem Dach. Und vor lauter Wut pinkelten sie auf dem Nachhauseweg in die Hauseingänge der Gadsche und schmissen ihnen Steine in die Fenster.
     
    Abends hörte man aus den Kneipen, Spelunken und Kaschemmen die greinende
heligonka
, die Ziehharmonika, kreischen:
Ručičky nebojte se,
meine liebsten Hände, fürchtet euch nicht, tamtata, tamtata,
vy dělat nebudete,
arbeiten, das müsst ihr nicht, oder
Na Pankráci, na malém vršíčku,
in Pankrác, auf dem kleinen Hügel, dort steht eine schöne Allee   … In den Autos und Straßenbahnen schwitzten Menschen mit starren Gesichtern und in schwarzen Anzügen und Abendkleidern, sie fuhren in die Stadt, ins Theater, Konzert oder auf ein Glas Wein, und die Dunkas standen auf dem Bürgersteig herum und sahen verwundert den sprühenden Funken aus der Oberleitung zu. Und dann stimmte einer von ihnen, wie selbstvergessen, aus dem Schmerz über die engen Straßenschluchten und den vergitterten Himmel heraus,
Joj mamo
an. Bald gesellte sich der Nächste dazu, ein paar Töne versetzt und um eine Terz höher;
Joj mamo, bokhaľi som   …
Und sobald noch ein Dritter dazukam, mussten sie schon aufhören, |31| um nicht loszuweinen, um nicht vor Schmerz und Heimweh auf der Straße zu sterben.
    Oben in den Fenstern, hinter schweren Vorhängen, hörten ihnen Musiklehrerinnen zu, die seit Monaten und Jahren mit den Gadsche-Kindern Tonleitern, Etüden und vergrößerte Quintseptakkorde gebüffelt hatten. Die Dreistimmigkeit, die aus den Zigeunerkehlen kam, diese Dreistimmigkeit, die das Notensystem sprengte, bewegte sie tief und schmerzte zugleich. Und die Lehrerinnen spürten, wie etwas Altes, Schönes und Großes ihre Seelen berührte.
     
    Jekhfeder paťiv luvutariske   …
Die höchste Ehre gebührt dem Geigenspieler   …
Barvaľipen lovenca, čoripen giľenca   …
Geld gesellt sich zu Geld, den Armen bleiben die Lieder.
    Aber die Musik macht nicht satt und das Singen stillt den Hunger nicht. Und so schnappte sich Ida manchmal alle Kinder, nahm noch ein paar Nachbarskinder mit und zog mit der ganzen Schar zum Ortsamt. Dort fürchtete man sich vor den lauten und zudringlichen Dunkas, und da sich die Beamten auf keine langen und unsinnigen Streitgespräche mit Ida einlassen wollten, gaben sie ihr lieber sofort was oder stellten wenigstens eine Zahlung in Aussicht.
    Das Geld nahm ihr gleich vor der Tür Štefan ab. Und dann passierte mit dem Onkel jedes Mal etwas ganz Furchtbares. Er kam wie verwandelt nach Hause zurück, er torkelte über die Pawlatsche, trommelte mit den Fäusten gegen die Türen, und jeden, der ihm vor die Füße geriet, beschimpfte er mit den furchtbarsten Flüchen. Dann ließ er sich aufs Bett fallen und wälzte sich hin und her, jammerte und schrie vor Schmerzen. Manchmal verwechselte er sogar die Haustür, schlief im Nachbarhaus ein und wurde am nächsten Tag von der Polizei nach Hause gebracht, verdreckt, vollgepinkelt, |32| manchmal auch verletzt. Die Kinder spähten durch das Schlüsselloch, und sobald sich Štefan nicht mehr rührte, berieten sie flüsternd hinter der Tür, ob er nun tot sei oder nur schlafe. Andrejko fürchtete sich vor Štefan und gleichzeitig fand er es traurig, dass der Onkel so leiden musste, aber im Laufe der Zeit, als ihm die Žižkover Welt vertrauter wurde, hörte er auf, sich zu wundern.
     
    Als Fero wieder gesund war, zog es ihn zurück auf die Gleise, denn seine Welt begann und endete auf dem Bahnhof. Die letzten Stationen im Osten hießen Snina und Stakčín, hinter
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