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Lullaby (DE)

Lullaby (DE)

Titel: Lullaby (DE)
Autoren: Chuck Palahniuk
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ließ sie die Dose fallen. Sie ist schon auf dem Weg zum Vatikan. Zur Analyse. Man kann schon Postkarten zu dem Ereignis kaufen. Sogar Videos.
    Fast alles, was man kaufen kann, kommt hinterher. Gefangen. Tot. Gekocht.
    In den Souvenirvideos schüttelt die Fliegende Jungfrau die Spraydose. Sie schwebt über der Hauptstraße und winkt der Menge zu. Aus ihrer Achselhöhle sprießt ein Büschel brauner Haare. Als sie zu schreiben beginnt, hebt ein Windstoß ihren Rock, und die Fliegende Jungfrau trägt darunter kein Höschen. Sie ist zwischen den Beinen rasiert.
    Ich schreibe diese Geschichte von heute in einer Raststätte in Welburn, New Mexico, und rede mit Augenzeugen. Bei mir sitzt Sarge, ein verrunzelter alter irischer Cop. Auf dem Tisch zwischen uns liegt die Lokalzeitung, und man sieht die Überschrift einer dreispaltigen Anzeige:
    Achtung an alle Kunden von
Polstermöbelgeschäften
     
    In der Anzeige heißt es: »Wenn aus Ihren neuen Polstermöbeln giftige Spinnen ausgeschlüpft sind, können Sie an einer Sammelklage teilnehmen.« Dazu eine Telefonnummer, aber die bringt nichts.
    Die lose Haut an Sarges Hals ist von der Art, die, wenn man einmal hineinkneift, bleibt wie sie ist. Er muss erst einen Spiegel finden, um die Haut wieder flach zu drücken.
    Draußen fahren die Leute immer noch in die Stadt. Kniend beten sie um eine zweite Erscheinung. Sarge legt seine Pranken zusammen und tut so, als würde er beten, blickt aber aus dem Fenster; sein Halfter ist aufgeschnallt, seine Pistole geladen und zum Skeetschießen bereit.
    Als sie ihren Text an den Himmel geschrieben hatte, blies die Fliegende Jungfrau den Leuten Kusshände zu. Machte mit zwei Fingern das Friedenszeichen. Schwebte über den Bäumen, hielt mit einer Hand den Rock unten, schüttelte ihre roten und schwarzen Dreadlocks und winkte. Amen. Und weg war sie, hinter den Bergen, hinterm Horizont. Weg.
    Trotzdem kann man nicht allem trauen, was in der Zeitung steht.
    Die Fliegende Madonna: Das war kein Wunder.
    Es war Magie.
    Es gibt keine Heiligen. Es gibt nur Zauber.
    Sarge und ich, wir sind nicht hier, um etwas zu bezeugen. Wir sind Hexenjäger.
    Aber diese Geschichte handelt nicht vom Hier und Jetzt. Ich, Sarge, die Fliegende Jungfrau. Helen Hoover Boyle. Was ich hier schreibe, ist die Geschichte, wie wir uns kennen gelernt haben. Wie wir hierher gekommen sind.

2
     
    Sie stellen dir nur eine Frage. Kurz vorm Examen an der Journalistenschule fordern sie dich auf, dir vorzustellen, du seist Reporter. Du arbeitest für eine Tageszeitung in einer Großstadt, und am Heiligabend erhältst du vom Chef den Auftrag, einen Todesfall zu recherchieren.
    Polizei und Sanitäter sind schon da. Die Nachbarn drängen sich in Bademänteln und Pantoffeln auf dem Flur des Wohnhauses in den Slums. In der Wohnung sitzt ein junges Paar schluchzend neben dem Weihnachtsbaum. Ihr Baby ist an einem Stück der Dekoration erstickt. Du erfährst, was du brauchst: Name und Alter des Babys und alles, und du kommst gegen Mitternacht in die Redaktion zurück und kriegst den Artikel gerade noch rechtzeitig fertig.
    Du gibst ihn deinem Redakteur, aber der lehnt ihn ab, weil du die Farbe des Dekorationsstücks nicht erwähnt hast. War es rot oder grün? Du hast es nicht zu Gesicht bekommen, und du bist nicht auf die Idee gekommen, danach zu fragen.
    Die Druckerei schreit nach der Titelseite, und du hast folgende Möglichkeiten:
    Die Eltern anrufen und nach der Farbe fragen.
    Oder diesen Anruf verweigern und deinen Job verlieren.
    So lief das bei der Presse. Und jedenfalls bei mir auf der Journalistenschule bestand das gesamte Abschlussexamen für den Ethikkurs nur aus dieser einen Frage. Es ist eine Entweder/ Oder-Frage. Meine Antwort lautete, ich würde die Sanitäter anrufen. Details wie dieses müssen erfasst werden. Der Weihnachtsschmuck musste eingetütet und fotografiert und zu den Akten genommen worden sein. Auf gar keinen Fall würde ich Heiligabend nach Mitternacht noch bei den Eltern anrufen.
    Ich bekam in Ethik eine Vier.
    Statt Ethik lernte ich bloß, den Leuten zu erzählen, was sie hören wollen. Ich lernte, alles aufzuschreiben. Und ich lernte, dass Redakteure echte Arschlöcher sein können.
    Ich frage mich immer noch, was dieser Test eigentlich sollte. Heute bin ich Reporter bei einer Tageszeitung in einer Großstadt, und ich brauche mir nichts mehr bloß vorzustellen.
    Das erste echte Baby hatte ich an einem Montagmorgen im September. Da gab’s keinen
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