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Lullaby (DE)

Lullaby (DE)

Titel: Lullaby (DE)
Autoren: Chuck Palahniuk
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Weihnachtsschmuck. Keine Nachbarn, die sich vor dem Wohnwagen in der Vorstadt drängten. Ein Rettungssanitäter saß bei den Eltern in der winzigen Küche und stellte ihnen die Standardfragen. Der zweite Sanitäter führte mich ins Kinderzimmer und zeigte mir, was sie gewöhnlich im Kinderbett vorfinden.
    Beispiele für die Standardfragen der Sanitäter: Wer hat das Kind tot aufgefunden? Wann wurde das Kind entdeckt? Wurde das Kind bewegt? Wann wurde das Kind zuletzt lebend gesehen? Wurde das Kind gestillt oder mit der Flasche ernährt? Die Fragen scheinen willkürlich, aber Ärzte können nur statistische Daten sammeln und hoffen, dass sich daraus eines Tages ein Muster ergibt.
    Das Kinderzimmer war gelb gestrichen; an den Fenstern blaue, geblümte Vorhänge, neben dem Bett eine weiße Korbtruhe. Ein weiß gestrichener Schaukelstuhl. Über dem Bett ein Mobile mit gelben Plastikschmetterlingen. Auf der Korbtruhe ein Buch, aufgeschlagen auf Seite 27. Ein blauer Flickenteppich. An einer Wand ein Rahmen mit einem gestickten Spruch: Donnerstagskind hat einen weiten Weg . Im Zimmer roch es nach Babypuder.
    Ethik mag ich nicht gelernt haben, dafür aber, auf Einzelheiten zu achten: Keine ist zu gering.
    Das aufgeschlagene Buch hieß Gedichte und Lieder aus aller Welt und stammte aus der Bezirksbücherei.
    Mein Redakteur plante eine fünfteilige Serie über den plötzlichen Kindstod. Jedes Jahr sterben siebentausend Babys ohne erkennbare Ursache. Zwei von tausend Babys schlafen ein und wachen einfach nicht mehr auf. Duncan, mein Redakteur, nannte das den Krippentod.
    Details zu Duncan: das Gesicht voller Aknenarben, die Kopfhaut alle zwei Wochen am Haaransatz braun, wenn er sich die grauen Wurzeln färbt. Sein Computerpasswort ist »Passwort«.
    Über den plötzlichen Kindstod weiß man lediglich, dass er keinem Muster folgt. Die meisten Babys sterben zwischen Mitternacht und Morgen allein, manche auch im Bett ihrer Eltern. Oder im Autositz, oder im Kinderwagen. Oder in den Armen der Mutter.
    Es gebe so viele Leute mit Kleinkindern, sagte mein Redakteur. Eltern und Großeltern haben zu große Angst, solche Artikel zu lesen, und zu große Angst, sie nicht zu lesen. Neue Informationen zu dem Thema gebe es nicht, es gehe nur darum, fünf Familien zu porträtieren, die ein Kind verloren hatten. Zu zeigen, wie Menschen damit fertig werden. Wie Menschen trotzdem weiterleben. Hier und da könnten wir Standardfakten über den Krippentod einstreuen. Wir könnten die tiefe innere Quelle von Kraft und Mitgefühl beleuchten, die jeder einzelne dieser Menschen in sich entdeckt. So etwa. Weil es dabei nicht um ein bestimmtes Ereignis geht, nennt man solche Beiträge »Softnews«. Sie sollten auf der Titelseite der Lifestyle-Beilage erscheinen.
    Zur Dekoration könnten wir lächelnde Bilder von gesunden Babys zeigen, die jetzt tot seien.
    Um zu illustrieren, dass das jedem passieren könne.
    Das war seine Masche. Diese Art von investigativem Journalismus betreibt man, um Preise abzustauben. Es war Spätsommer, die Zeit des Sommerlochs. Genau die richtige Jahreszeit für Hochschwangerschaften und Neugeborene.
    Und so kam mein Redakteur auf die Idee, dass ich den Rettungsdiensten hinterherlaufen sollte.
    Die Geschichte mit Weihnachten, das schluchzende Elternpaar, der verschluckte Weihnachtsschmuck: Inzwischen hatte ich so lange gearbeitet, dass ich den ganzen Mist vergessen hatte.
    Diese hypothetische Ethikfrage stellen sie einem erst am Ende des Journalismuskurses, weil es dann schon zu spät ist. Man hat enorme Studiendarlehen abzuzahlen. Viele Jahre später glaube ich jetzt, die eigentliche Frage lautet: Wollen Sie mit so etwas Ihre Brötchen verdienen?

3
     
    Durch die Wände dringt gedämpfter Dialog, dann lautes Lachen. Und wieder Dialog. Die meisten Lachkonserven im Fernsehen wurden in den frühen Fünfzigerjahren aufgenommen. Die Leute, die man da heute noch lachen hört, sind größtenteils längst tot.
    Unablässig stampft eine Trommel durch die Zimmerdecke. Der Rhythmus wechselt. Manchmal hageln die Schläge dichter, schneller, manchmal in größeren Abständen, langsamer, aber aufhören tut es nie.
    Im Zimmer unter mir jault jemand einen Song mit. Leute, die ständig den Fernseher, die Stereoanlage oder das Radio laufen lassen müssen. Leute, die sich vor der Stille fürchten. Meine Nachbarn. Lärmsüchtige. Phobiker des Schweigens.
    Das Lachen der Toten kommt durch alle Wände.
    So was nennt man heutzutage trautes Heim.
    Von
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