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Lullaby (DE)

Lullaby (DE)

Titel: Lullaby (DE)
Autoren: Chuck Palahniuk
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Leben. Und ich schwöre, egal wo oder wann, ich werde Oyster und Mona aufspüren.
    Das Gute daran ist, es dauert nur eine Minute.
    Es ist ein altes Lied, es handelt von Tieren, die schlafen gehen. Es ist wehmütig und sentimental, und mein Gesicht fühlt sich aschgrau an und heiß von oxidiertem Hämoglobin, während ich das Gedicht im Licht der Neonlampen aufsage, an den Stahlschrank gelehnt, in meinen Armen das schlaffe Bündel Helen. Patrick ist mit meinem Blut bedeckt, mit ihrem Blut bedeckt. Ihr Mund ist leicht geöffnet, die glitzernden Zähne sind echte Diamanten.
    Ihr Name war Helen Hoover Boyle. Ihre Augen waren blau.
    Meine Aufgabe ist es, auf Details zu achten. Ein unparteiischer Zeuge zu sein. Alles ist immer Recherche. Meine Aufgabe ist es, nichts zu empfinden.
    Man nennt das ein Merzlied. Merzlied. In manchen alten Kulturen wurden solche Lieder Kindern vorgesungen, während Hungersnöten oder Dürrezeiten oder wenn der Stamm für sein Land zu groß geworden war. Man sang es für bei Unfällen verletzte Krieger oder sehr alte Menschen oder Sterbende. Um Elend und Schmerz zu beenden.
    Es ist ein Wiegenlied. Ein Lullaby
    Ich sage, alles wird gut. Ich wiege Helen in den Armen, sage, sie könne jetzt ausruhen. Sage, es werde alles wieder gut.

44
     
    Als ich zwanzig war, habe ich Gina Dinji geheiratet, und das sollte für den Rest meines Lebens so sein. Ein Jahr später bekamen wir eine Tochter, Katrin, und sie sollte für den Rest meines Lebens da sein. Dann sind Gina und Katrin gestorben. Und ich bin weggelaufen und Carl Streator geworden. Und ich bin Journalist geworden. Und für weitere zwanzig Jahre war das mein Leben.
    Danach, na, Sie wissen ja jetzt, was dann passiert ist.
    Wie lange ich Helen Hoover Boyle in den Armen hielt, weiß ich nicht. Nach einiger Zeit war es nur noch eine Leiche. Es war schon lange her, dass sie aufgehört hatte zu bluten. Inzwischen waren die Bruchstücke von Patrick Boyle, die sie immer noch in den Armen hielt, so weit aufgetaut, dass sie zu bluten anfingen.
    Dann hielten Schritte vor der Tür von Zimmer 131. Die Tür ging auf.
    Ich sitze immer noch auf dem Fußboden, Helen und Patrick tot in den Armen, und die Tür geht auf, und es ist der ergraute alte irische Polizist.
    Sarge.
    Und ich sage: Bitte. Bitte, bringen Sie mich ins Gefängnis. Ich bekenne mich schuldig in allen Punkten. Ich habe meine Frau umgebracht. Ich habe mein Kind umgebracht. Ich bin Waltraud Wagner der Todesengel. Töten Sie mich, damit ich wieder bei Helen sein kann.
    Und Sarge sagt: »Wir müssen weiter.« Er geht von der Tür zum Stahlschrank. Er schreibt etwas auf einen Block. Er reißt den Zettel ab und hält ihn mir hin.
    Seine runzlige Hand ist voller Altersflecke und dicht mit grauen Haaren bewachsen. Die Fingernägel sind dick und gelb.
    »Bitte verzeih mir, dass ich mir das Leben genommen habe«, steht auf dem Zettel. »Ich bin jetzt bei meinem Sohn.«
    Helens Handschrift, dieselbe wie in ihrem Terminkalender, dem Grimoire.
    Unterschrift: »Helen Hoover Boyle«, exakt ihre Handschrift.
    Und ich wende den Blick von der Leiche in meinen Armen, von Blut und grüner Abflussreinigerkotze, sehe Sarge an und sage: Helen?
    »Leibhaftig«, sagt Sarge, sagt Helen. »Na ja, nicht im eigenen Leib«, sagt er und blickt auf Helens Leiche in meinem Schoß. Er betrachtet seine runzligen Hände und sagt: »Ich hasse Konfektionsware, aber in der Not frisst der Teufel Fliegen.«
    Und so sind wir jetzt wieder unterwegs.
    Manchmal beunruhigt mich der Gedanke, dass Sarge in Wirklichkeit Oyster ist, der so tut, als wäre er Helen, die Sarge okkupiert. Wenn ich mit diesem Wesen schlafe, wer auch immer er oder sie sein mag, stelle ich mir vor, es ist Mona. Oder Gina. Auf die Weise gleicht sich alles wieder aus.
    Mona Sabbat zufolge werden Leute, die zu viel essen oder trinken, Leute, die süchtig nach Drogen, Sex oder Diebstahl sind, in Wirklichkeit von Geistern beherrscht, die diese Dinge so sehr gemocht haben, dass sie auch nach dem Tod nicht davon lassen können. Säufer und Kleptomanen, die sind von bösen Geistern besessen.
    Du bist der Nährboden. Der Wirt.
    Manche Leute denken immer noch, sie hätten ihr Leben selbst in der Hand.
    Du bist besessen.
    Wir alle sind Jäger und Gejagte.
    In dir lebt sich immer etwas Fremdes aus. Dein ganzes Leben ist das Vehikel, in dem etwas anderes auf die Welt kommt.
    Ein böser Geist. Eine Theorie. Eine Werbekampagne. Eine politische Strategie. Eine religiöse Lehre.
    Sarge
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