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Luftkurmord

Luftkurmord

Titel: Luftkurmord
Autoren: Elke Pistor
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Büchern hatten es oft leichter als wir. Der Tod ließ sich in
der Phantasie besser ertragen als im Leben.
    Schon aus der
Entfernung fiel mir die gelbe Handtasche am Fuß des Geländers auf. Dann die
Schuhe, die ordentlich an der Böschung standen. Violettes Wildleder mit
mexikanischem Muster. Mir wurde übel, und ich kämpfte gegen den Impuls, mich
ebenfalls zu übergeben. Ich kannte nur einen Menschen, der eine solche
Handtasche besaß und solche Schuhe trug, und wusste, wer da im Wasser lag,
bevor ich die Leiche gesehen hatte.
    Vor dem Dickicht
blieb ich einen Moment stehen und schloss die Augen. Wollte ich das wirklich
sehen? Konnte ich sachlich und abgeklärt sein? Oder hatte mein sterbender Kater
mein Nervenkostüm zu sehr ausgedünnt?
    »Ina?« Judith stand
dicht hinter mir. »Alles in Ordnung?«
    Ich fuhr herum. Ich
war ihre Ausbilderin. »Ja. Danke«, murmelte ich und stellte mich den Tatsachen.
    Regina Brinke.
Angestellte des Bauamtes der Stadt Schleiden. Gemünderin. Lebte mit ihrem an
Alzheimer erkrankten Vater zusammen im elterlichen Haus auf dem Salzberg.
Alleinstehend. Keine Kinder. Eine ehemalige Klassenkameradin von mir und seit
Neuestem wieder in meinen engeren Bekanntenkreis gerückt.
    »Wie haben Sie sie
aufgefunden?« Meine Stimme zitterte.
    Der Sanitäter hatte
schon auf mich gewartet.
    »Sie lag mit dem
Gesicht nach unten vor der Wehrstufe«, berichtete er. »Der Herr, der uns gerufen
hat, ist wohl auf sie draufgefallen, als er versucht hat, sein Boot zu retten.«
    Ich nickte und sah
mich nach dem Zeugen um. Er saß nun wieder auf der Bank, flankiert von Judith
und dem Rettungsarzt, der über ein Klemmbrett gebeugt Formulare ausfüllte. Hornbläser
rauchte. Sein Boot, dachte ich und merkte, wie die Wut in mir hochkochte. Er
wollte sein Boot retten. Nicht Regina. Auch wenn es zu diesem Zeitpunkt
vermutlich keinen Unterschied mehr gemacht hätte.
    Ich holte tief Luft
und ging zu der Leiche, die nun am Ufer lag. Reginas Haar lag in schweren
Strähnen über ihrem Gesicht, und die Kleidung klebte an ihrem Körper. Ihre
Hände und die Haut an ihrer Stirn und an den Wangen zeigten Kratzspuren, die
aber nicht unbedingt Zeichen eines Kampfes sein mussten, sondern nach ihrem Tod
entstanden sein konnten.
    »Sonst haben Sie
nichts verändert?«
    »Natürlich nicht.«
Der Sanitäter schob trotzig den Unterkiefer vor. »Ich weiß doch, dass ich alles
so lassen muss, wie es war.«
    »Okay.« Ich ging zu
der Handtasche. Ein weißer Umschlag steckte hochkant darin. Ein kurzer Griff in
meine Jackentasche, und ich fand die Gummihandschuhe. Bei einigen alten
Gewohnheiten war es gut, sie weiterzupflegen. Routinen beruhigten und lenkten
ab. Das Papier knisterte, als ich den Umschlag öffnete, den Brief hervorzog und
auffaltete.
    »Herr Hornbläser
wäre dann jetzt so weit.«
    Ich zuckte zusammen
und fuhr herum. Judith und der Zeuge standen nur einen Meter hinter mir.
    »Gut.« Der Brief war
wichtiger. Handgeschrieben. Nur ein paar Zeilen. Judith räusperte sich.
    Ich hob abwehrend
die Hand und las weiter. Dann blickte ich auf und streckte den Rücken. »Können
Sie sich erinnern, ob die Tasche und die Schuhe schon da waren, als sie heute
früh hierherkamen?«
    »Ich weiß nicht.«
Hornbläser sah zum Wasser und vermied es angestrengt, in Reginas Richtung zu
sehen. »Ich habe nicht darauf geachtet.«
    »In Ordnung, Herr
Hornbläser.« Ich lächelte ihm zu. Es fühlte sich an wie eine Maske. »Sie können
jetzt gehen. Meine Kollegin hat Ihre Personalien ja sicher aufgenommen. Wir
erreichen Sie …«
    »Am Wohnmobilhafen
hinter dem Schwimmbad.« Er suchte wieder nach seinem Tabak. »Und heute werde
ich auf der Regatta im Ort sein, auch wenn die ›Lydia‹ wohl nicht mehr …« Er
verstummte, drehte sich um und stapfte mit ausholenden Schritten über die Wiese
davon.
    »Wie kannst du ihn
einfach gehen lassen?«, zischte Judith hinter meinem Rücken, kaum dass er außer
Hörweite war. »Er ist ein Zeuge. Er ist sogar der einzige Zeuge!«
    »Er hat Regina nur
gefunden.«
    Judith schob ihre
Augenbrauen zu einem einzigen Strich zusammen. »Was macht dich da so sicher?«
Sie stutzte. »Regina?«
    »Regina Brinke.« Ich
näherte mich der Toten, ging neben ihr in die Hocke und hielt Judith mit
ausgestrecktem Arm den Brief hin. »Sie ist eine Bekannte von mir, und das ist
ihr Abschiedsbrief. Sie hat sich umgebracht.« Ich verstummte.
    Es sah wirklich
alles nach Selbstmord aus. Die ordentlich abgestellten Schuhe, der Brief,
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