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Luftkurmord

Luftkurmord

Titel: Luftkurmord
Autoren: Elke Pistor
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Lauftreff. Ohne
weitere Bedeutung für mein eigenes Leben. Ich stand auf, legte den Kopf in den
Nacken und hasste mich in diesem Moment für die Oberflächlichkeit, mit der ich
ihr begegnet war.
    »Was meinst du, wie
lange sie schon tot ist?«, fragte Judith und hielt ihr Klemmbrett mit beiden
Händen umfasst.
    »Wie?« Ich sah sie
an.
    »Die Tote.« Sie wies
auf Regina. »Wie lange ist sie schon tot?«
    »Ich bin keine
Gerichtsmedizinerin.«
    Sie schwieg und
erwiderte meinen Blick.
    »Siehst du ihre
Handinnenflächen und die Fußunterseiten?«, gab ich schließlich nach.
    Judith nickte.
    »Dieser weiße
Schimmer auf der Haut und die Wellen. Man nennt es Waschhaut.«
    Judiths
Kugelschreiber tanzte über das Papier.
    »Sie muss seit
mindestens fünf bis sechs Stunden im Wasser liegen.«
    »Also ist sie in der
Nacht gestorben?«
    »Vermutlich. Aber
genau auf die Minute kann dir das niemand sagen. Auch der Rechtsmediziner
nicht. Sie können höchsten die Zeit eingrenzen.«
    Judith schob ihre
Zungenspitze zwischen die Lippen und machte weiter Notizen.
    »Aber das Wichtigste …«
    »Ja?« Judiths Augen
funkelten.
    »Sie ist ein Mensch,
Judith. Die Tote ist ein Mensch. Ihr Name ist Regina Brinke, und sie hatte ein
Leben, das sie am Ende hierhergeführt hat.« Ich fuhr mir mit den Fingern durch
die Haare und zog sie über die Stirn nach hinten. »Unsere Aufgabe ist,
herauszufinden, was es war, was sie hierher geführt hat. Deswegen sammeln wir
Indizien und Spuren. Deswegen gehen wir den Hinweisen nach.«
    Judith starrte mich
an. »Okay«, murmelte sie, und mir wurde klar, wie laut ich gesprochen haben
musste.
    »Die Kratzer an
ihrer Stirn kommen vermutlich vom Flussgrund, über den sie gerutscht ist. Die
Totenflecken sind nur ganz blass, aber auch das ist nicht ungewöhnlich bei
Wasserleichen«, sagte ich leiser, wie eine Entschuldigung.
    »Du weißt ja eine
ganze Menge über solche Sachen.« Bernhard Hansen, einer meiner neuen Kollegen
und Wachleiter der Schleidener Polizei, kam an der Spitze einer kleinen Gruppe
über die Wiese auf uns zu und musste meine letzten Worte gehört haben. Ich
erkannte den örtlichen Beerdigungsunternehmer, einen seiner Mitarbeiter und
zwei weitere Kollegen. »Bei fast zwanzig Jahren Arbeit in der Mordkommission
bleibt das nicht aus, was?« Hansens Stimmlage ließ auf eine Mischung aus
Anerkennung, Respekt und einer Prise Neid schließen.
    »Fünfundzwanzig. Und
bald dreißig bei der Polizei insgesamt«, murmelte ich, und mir wurde mit
Schrecken klar, wie lang das war. Ich erinnerte mich an das Gefühl von
Freiheit, das mich überkommen hatte, als ich nach dem Abitur die Ausbildung bei
der Kölner Polizei anfangen und dem Provinzmuff entfliehen durfte, als ob es
nicht länger als ein oder zwei Jahre her wäre. Man merkt, wie man älter wird,
wenn einen viele Dinge, die heute geschehen, an noch mehr Dinge erinnern, die
früher geschehen sind. So wie jetzt hier. Das gefiel mir nicht.
    Ich nickte,
konzentrierte mich und unterrichtete ihn kurz über die Sachlage.
    »Und du meinst, sie
hat sich umgebracht?«, fragte Hansen und beugte sich vor, um Regina aus der
Nähe zu betrachten.
    »Es sieht zumindest
so aus. Sicher sein kann man sich nie.« Ich zog meine Gummihandschuhe aus,
stopfte sie in meine Jackentasche und winkte Judith mir zu folgen. Unsere
Arbeit war getan. Wir konnten gehen.
    ***
    Der Cursor auf
dem Bildschirm blinkte. Ich rollte meinen Kugelschreiber zwischen den Händen
wie einen Kuchenteig. Der Bericht war fertig. Alle Einzelheiten aufgeführt, die
Angaben zum Zeugen vervollständigt, meine Einschätzung der Lage abgegeben und
die Übergabe an Hansen bestätigt. Judith saß mir an ihrem Schreibtisch
gegenüber und blätterte in einer Akte. Nur das Rascheln des Papiers war zu
hören, wenn sie eine Seite umblätterte. Sie tastete nach ihrem Kaffeebecher,
den sie sich aus dem Automaten im Eingangsbereich gezogen hatte. Schon nach dem
ersten Schluck verzog sie das Gesicht. Ich warf den Kugelschreiber auf die
Tischplatte, stand auf und ging um die Tische herum in eine Ecke des Raumes.
Dort stand der vermutlich wertvollste Einrichtungsgegenstand des Büros. Eine
nagelneue Kaffeemaschine, die nicht nur normalen Kaffee, sondern auch Espresso,
Milchkaffee und vor allem richtigen Milchschaum produzieren konnte. Ein
Geschenk meines Kölner Kollegen Matthias zum Abschied. Sechs von seiner
Schwester handgefertigte Keramiktassen zierten das Regalbrett über der
Maschine. Ich vermisste Matthias
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