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Lucy's Song

Lucy's Song

Titel: Lucy's Song
Autoren: Bjorn Ingvaldsen
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Tod unserer Mutter schuld zu sein.«
    »Das war er ja auch.«
    »Ja, im Grund genommen schon. Aber wir dachten nicht so. Nach dem ersten Schock haben wir es als einen Unfall angesehen. So etwas kann passieren. Aber es war schrecklich, dass es kein Grab gab, zu dem wir hätten gehen können.«
    »Aber dein Vater, der ist jetzt auch tot, oder?«
    »Ja. Er hat sich immer weiter Vorwürfe gemacht. Ich glaube, als er dann später Krebs bekam, hat er sich fast darüber gefreut. Jedenfalls hielt er die Schmerzen lange Zeit aus, bevor er endlich zum Arzt ging. Da war es schon zu spät, um etwas zu tun. Er kam ins Krankenhaus und drei Wochen später ist er gestorben. Sein Lebenswille war einfach nicht mehr da. Das haben sie im Krankenhaus auch gesagt. Er hat nichts mehr gegessen. Nach drei Wochen ist er gestorben.«
    »Kann man das?«, fragte ich. »Einfach beschließen zu sterben?«
    »Oh ja, das kann man«, sagte der Onkel.
    »Na, na, jetzt übertreibst du aber ein bisschen«, sagte Tante. Sie war mit Lucy im Badezimmer gewesen. »Gesunde Leute können nicht einfach beschließen, dass sie sterben möchten. Das glaube ich nicht. Aber es stimmt schon, dass kranke Menschen auch den Willen haben müssen, wieder gesund zu werden. Wenn man einfach aufgibt, dann stirbt man schnell. Davon habe ich auch schon gehört.«
    »Unsere Katze«, sagte ich, »die wir vorher hatten, die ist einfach gestorben. Sie hat aufgehört, rauszugehen, weil sie so alt war. Aber eines Nachts, da wollte sie raus. Mama hat sie in den Garten gelassen. Am nächsten Morgen haben wir sie gesucht. Da lag sie tot im Fahrradschuppen. Mama meinte, sie hätte wohl gefühlt, dass ihre Zeit gekommen war und wollte in Ruhe sterben.«
    »Meine Güte, was ist das alles für ein Gerede vom Tod«, warf die Tante ein. »Gibt es keine netteren Gesprächsthemen?«
    Der Onkel und ich, wir sagten nichts.
    »Wir können ja unsere Fahrt in die Hütte planen«, schlug der Onkel schließlich vor.
    »Glaubt ihr, dass Mama überleben will?«, fragte ich.
    Onkel und Tante schwiegen einen Augenblick lang.
    »Ja«, sagte mein Onkel dann.
    »Sie hat ja so viel, wofür sie lebt«, sagte die Tante. »Lucy und dich. Alle, die sich um sie kümmern. All ihre Interessen. So viel Schönes, auf das sie sich freuen kann.«
    »Sie hat heute von Paris gesprochen«, sagte ich.
    »Da siehst du es«, sagte die Tante.
    Ich sagte nicht, dass eigentlich ich es gewesen war, der Paris zur Sprache gebracht hatte.
    Die Tante brachte Lucy ins Bett. Der Onkel schaute auf die Uhr und meinte, es wäre an der Zeit für ihn, nach Hause zu kommen.
    »Fährst du mich?«, fragte er die Tante.
    Ich versprach, nach Lucy zu sehen, solange sie den Onkel nach Hause brachte.
    »Ich bin in einer halben Stunde zurück«, sagte sie. »Wir müssen unterwegs noch ein bisschen einkaufen.«
    Ich ging in Lucys Zimmer. Sie schlief schon. An der Wand über ihrem Bett hingen ein paar Zeichnungen von ihr. Es war nicht zu erkennen, was sie darstellen sollten. Wahrscheinlich sollten sie gar nichts darstellen. Es waren einfach nur Zeichnungen.
    Ich dachte daran, dass ich heute Mama angeschaut hatte, während sie schlief. Jetzt schaute ich Lucy an. Träumte sie manchmal? Wovon mochte sie wohl träumen? Sie wusste ja so gut wie nichts. Wovon konnte man dann träumen? Vom Essen? Und den Willen zu leben, hatte sie den? Ich streckte die Hand aus und legte sie ihr über Mund und Nase. Sie konnte nicht atmen. Ich hielt fest, ganz fest. Sie drehte den Kopf, warf sich zur Seite. Ich ließ los.
    Es kam ein Seufzer von ihr. Dann schlief sie wieder. Genauso friedlich wie vorher. Der Wille zu leben, dachte ich. Das ist sicher ein starker Wille. Aber zum Schluss sterben alle, ganz gleich, wie stark der Wille auch ist. Fliegen sterben, Schmetterlinge sterben. Elefanten sterben auch.
    Ich verließ das Zimmer und machte die Tür hinter mir zu. Lucys Zimmer. Wenn man bedachte, dass sie meine große Schwester war.

I
n dieser Nacht schlief ich nicht gut. Zuerst wachte ich mehrere Male von den Geräuschen auf, als jemand auf dem Flur entlanglief. Das war sicher meine Tante, die gehen wollte, und die Nachtwache, die kam. Was das für Geräusche waren, die ich danach hörte, konnte ich nicht sagen. Als ich endlich einschlief, träumte ich, ich stünde auf dem Balkon des Krankenhauses und schaute hinunter. Es war wahnsinnig weit bis zur Erde. Ich wollte nach meinem Fahrrad gucken, entdeckte aber stattdessen meine Mutter. Sie war angezogen und bereit, nach
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