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Lucas

Lucas

Titel: Lucas
Autoren: Kevin Brooks
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die mit einem Metalldetektor herumlaufen, und manchmal, spät in einer Sommernacht, heimliche Liebespaare in den Dünen.
    An dem Abend aber, als das Licht langsam schwand, war der Strand leer. Eine starke Brise wehte von See her und die Temperatur sank allmählich. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Kälte der Nacht hereinbräche, und alles, was ich anhatte, war – wie Bill so freundlich gesagt hatte – ein T-Shirt und ein paar abgetragene Shorts. Während ich mir die Arme rieb, rief ich wieder nach Deef, machte mich auf und ging schnellen Schrittes den Strand entlang Richtung Point.
    Ohne es recht zu wollen, fing ich an über den Jungen auf dem Damm nachzudenken. Ich fragte mich, wer er war, wohin er unterwegs war, was er hier vorhatte . . . Ich baute mir im Kopf Geschichten zurecht. Er war der Sohn eines Inselbewohners, stellte ich mir vor, der eine Zeit lang weg gewesen war, vielleicht beim Militär, möglicherweise sogar im Gefängnis, und jetzt kam er wieder nach Hause. Sein Vater war ein weißhaariger alter Mann, der allein in einer winzigen alten Fischerkate wohnte. Er hatte wahrscheinlich den ganzen Tag geputzt, etwas Gutes zu essen besorgt und die Kammer für seinen Jungen gerichtet . . .
    Nein, dachte ich. Der Junge ist nicht alt genug, um beim Militär gewesen zu sein. Wie alt wird er sein? Fünfzehn, sechzehn, siebzehn? Ich rief mir sein Gesicht in Erinnerung und – verflucht – mein Herz setzte doch tatsächlich einen Schlag aus. Diese blassblauen Augen, die zerzausten Haare, dieses Lächeln . . . ich sah das alles ganz deutlich vor mir. Aber das Merkwürdige war, egal wie sehr ich mich in Gedanken mit dem Gesicht beschäftigte, es ließ sich unmöglich sagen, wie alt der Junge war. Im einen Moment wirkte er wie dreizehn, im nächsten war er ein junger Mann – achtzehn, neunzehn, zwanzig . . .
    Sehr merkwürdig.
    Aber wie auch immer, ich entschied mich, er sei nicht der Sohn eines Inselbewohners. Er sah einfach nicht so aus. Inselbewohner – und die Nachkommen der Inselbewohner – haben ein ganz typisches Aussehen. Sie sind klein und dunkel, haben heruntergezogene Augenlider und drahtiges Haar, das dem Wind standhält, und selbst wenn sie nicht klein und dunkel sind, keine heruntergezogenen Augenlider und auch kein drahtiges Haar haben, sehen sie trotzdem so aus. Der Junge war kein Inselbewohner. Das Gesicht, das ich im Kopf hatte, war nicht vom Wind gegerbt. Das Gesicht, das ich im Kopf hatte, gehörte einem Jungen von nirgendwoher.
    Ob er Arbeit braucht?, überlegte ich. Oder sucht er jemanden? Ein Mädchen, seinen geliebten Schatz – oder vielleicht einen Feind? Jemanden, der ihn betrogen hat. Jemanden, der ihn in seinem Stolz verletzt hat. Er ist landauf, landab gereist auf der Suche nach . . .
    Ich unterbrach mich, als mir bewusst wurde, was ich mirda zurechtträumte. Mein
Gott
, Caitlin, sagte ich mir. Was um Himmels willen
tust
du da? Schatz? Feind? Ehre? Das sind Kitschroman-Fantasien. Wie peinlich. Guck dich mal an. Du führst dich auf wie ein dummes kleines Mädchen, das wegen eines dämlichen Popstars in Ohnmacht fällt. Meine Güte, reiß dich zusammen. Werd endlich erwachsen, werd endlich erwachsen, werd endlich erwachsen, werd endlich erwachsen . . .
    Ich schüttelte den Kopf und ging weiter.
    Es ist schwer, über das Erwachsenwerden nachzudenken, wenn du mittendrin steckst. Es ist schwer herauszufinden, was du selber willst. Manchmal hörst du so viele Stimmen im Kopf, dass du kaum entscheiden kannst, welche deine ist. Mal willst du dies, mal willst du jenes. Du glaubst, du willst dies, aber dann willst du doch lieber was anderes. Du glaubst, du solltest dies wollen, aber alle sagen plötzlich, es wird von dir erwartet, dass du etwas anderes willst.
    Es ist nicht einfach.
    Ich erinnere mich an ein Erlebnis, als ich ungefähr zehn oder elf war. Ich kam aus der Schule und heulte mir die Augen aus dem Kopf, weil die anderen Kinder mich Baby genannt hatten. Dad tröstete mich und wartete geduldig, bis die Tränen trockneten, dann setzte er mich hin und gab mir einen Rat: »Hör zu, Cait«, sagte er. »Du wirst dir die Hälfte deiner Kindheit wünschen erwachsen zu sein und dann, wenn du erwachsen
bist
, wirst du dir die Hälfte der Zeit wünschen wieder ein Kind zu sein. Deshalb mach dir nicht zu viele Sorgen darüber, was richtig oder falsch für dein Alter ist – tu einfach immer, was
du
willst.«
    Das brachte mich wieder auf Dad, auf seine Einsamkeit, sein Schreiben, sein
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