Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lorettas letzter Vorhang

Lorettas letzter Vorhang

Titel: Lorettas letzter Vorhang
Autoren: Petra Oelker
Vom Netzwerk:
Loge im Theater haben. Dein neuer Samtrock ist schon gebürstet, und auf deinem Bett liegen ein feineres Hemd und frische Wadenstrümpfe bereit. Wenn du beim Ankleiden Hilfe brauchst   …»
    «Merci, Madame. Ich kleide mich immer selbst an. Aber wenn Ihr erlaubt, ich möchte nicht ins Theater gehen. Ich gehe niemals in ein Theater.»
    «Dann wird es höchste Zeit, das zu ändern.» Anne lächelte aufmunternd. «Du solltest es versuchen, es wird dir großen Spaß machen.»
    «Tante Cornelia hätte nie erlaubt, daß ich das Theater besuche.»
    «Deine Tante ist in Köln, und hier solltest du dich an das halten, was dein Vater wünscht. Er freut sich schon sehr darauf, daß du neben ihm in der Loge sitzen wirst.»
    Das stimmte zwar kaum; Claes nutzte jede Gelegenheit, seinem jüngeren Sohn aus dem Weg zu gehen. Doch zumindest in den ersten Wochen hatte er sich redlich bemüht, in diesem staubtrockenen kleinen Professor das Kind wiederzufinden, das er vor mehr als drei Jahren zu seiner Schwester nach Köln geschickt hatte. Vielleicht war das ein Fehler gewesen, aber was hätte er sonst tun sollen? Nach dem Tod seiner Mutter kränkelte Niklas lange Zeit. Er war schon immer ein stilles Kind gewesen, ganz anders als sein großer Bruder Christian, dem, kaum daß er laufenkonnte, kein Baum zu hoch, kein Pony zu wild gewesen war. Niklas’ Gemüt sei ein wenig düster für sein Alter, sagten die Ärzte schließlich und kneteten besorgt die Hände, aber vor allem gebe seine Brust Anlaß zu großer Sorge. Sie sei zu eng und feucht, nur ein wärmeres Klima könne helfen. So packte Claes sein Kind in die große Kutsche und brachte es nach dem milderen Köln zu seiner Schwester. Nur für den Winter, so war es geplant, doch es waren drei Jahre daraus geworden. Drei Jahre sind eine lange Zeit im Leben eines Zwölfjährigen.
    «Verdirb ihm doch nicht die Freude, Niklas.» Sie sah ihn bittend an, plötzlich kam sie sich selbst wie ein Kind vor. Das war nun wirklich genug. «Die Kutsche», sagte sie und klang nun ebenso kühl wie ihr Stiefsohn, «wartet um Schlag halb sechs vor der Tür, und du wirst mit mir und deinem Vater einsteigen und zum Theater fahren. So ist es beschlossen, und ich fürchte, so wird es auch sein.»
    «Gewiß wünscht Ihr nicht, daß ich gegen meine christliche Überzeugung handle.» Niklas zog die noch kindlich feinen Brauen hoch wie ein Prediger im Angesicht eines uneinsichtigen Sünders. «Das würde ich tun, wenn ich dem Befehl meines Vaters folgte. Zudem habe ich Tante Augusta versprochen, ihr morgen abend die nächste Schachlektion zu geben. Ich darf sie nicht enttäuschen.»
    Anne spürte einen zornigen, kalten Druck in ihrem Nacken. Dieses Kind behandelte sie nicht wie die Frau seines Vaters, der es Respekt schuldete, sondern wie einen unliebsamen Haushofmeister, mit dieser schrecklichen Höflichkeit, die jeden Versuch der Freundlichkeit im Keim erstickte.
    «Aber du weißt seit Tagen, daß wir morgen ins Theater gehen», ihre Stimme klang lauter, als sie es eigentlich wollte, «und wenn du solche Termine vergißt, solltest dusie dir künftig aufschreiben. Am besten gehst du gleich zu Augusta und teilst ihr mit, daß sie morgen auf ihre Schachlektion verzichten muß. Sie wird es verstehen. Du wirst jedenfalls morgen abend mit uns kommen, ob du es mit deinem christlichen Gewissen vereinbaren kannst oder nicht.»
    Anne hätte viel dafür gegeben, diesen letzten Satz ungesagt zu machen, aber nun war er heraus, und zum hundertstenmal verfluchte sie ihre unbeherrschte Zunge. Zu spät. Niklas, blaß wie ein Leintuch und immer noch beherrscht wie ein alter Mann, verbeugte sich steif, trat rückwärts einen Schritt zur Tür, und als er sich im Hinausgehen umdrehte, es war gewiß nur eine Ungeschicklichkeit, stieß er mit dem Ellbogen die Deckelvase aus chinesischem Porzellan von dem kleinen Tisch neben dem Kachelofen. Bevor Anne auch nur die Arme ausstrecken konnte, um die Vase aufzufangen, lag sie am Boden, nur noch Scherben und tausend Splitter.
    Niklas war die Treppe hinauf geflüchtet. Anne sah auf die Scherben und kämpfte mit ihrem Zorn. Sie mußte nun klug sein. Aber was war hier klug? Was war das Richtige bei diesem Kind? Auf alle Fälle würde sie Claes sagen, daß ihr eigener Ellbogen die Vase hinuntergestoßen hatte. Und sie würde ihm nicht sagen, daß sie seinem Sohn erst gestern, wie so oft im Bemühen, seine fest verschlossene Seele doch noch zu erreichen, die besondere Schönheit der Vase
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher