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London

London

Titel: London
Autoren: Edward Rutherfurd
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Regelmäßig legte man Römerstraßen und mittelalterliche Gebäude frei. Vor kurzem hatte man gleich bei der antiken Mauer die Überreste einiger Goldmünzen und Gußformen eines römischen Falschmünzers entdeckt, die anscheinend in ziemlicher Hast weggeworfen worden waren. Der betreffende Kurator hatte demonstriert, wie das Fälschen der Münzen vor sich gegangen war.
    Und außerdem war da noch der junge Dr. Dogget. Mit seinem fröhlichen Naturell und der weißen Strähne im Haar war er beliebt und bekannt. Seltsamerweise hatte er feine Schwimmhäute zwischen den Fingern. Er war immer sehr beschäftigt, und sie als Neue war natürlich noch unbedeutend, aber sie hoffte, daß er bei dieser Ausgrabung von ihr Notiz nehmen würde. Die Frage war, ob er neben römischen Artefakten auch blauäugige Blondinen mochte?
    Die Grabung fand auf einem kleinen Gelände mit Blick auf die Themse statt. Nicht oft bekamen Archäologen die Chance, in der Londoner City zu graben, aber wenn ein Gebäude abgerissen wurde und ein neues aufgebaut werden sollte, konnte man Vereinbarungen für eine Ausgrabung treffen. Man hatte seit der Zerstörung der City und des Eastends im Blitzkrieg so viel gebaut, daß die Qualität sehr unterschiedlich war. Manche Projekte, etwa die riesige Sanierung der Docklands, seit die Hafenarbeiten aufgrund von Containern und gigantischen Schiffen ein großes Stück weiter mündungsabwärts verlagert worden waren, fand Sarah recht gut. Das Gebäude hier war ihrer Meinung nach sehr mittelmäßig gewesen, so daß sie doppelt froh war, daß man es abgerissen hatte. Die Eigentümer des neu geplanten Gebäudes hatten sogar zugestimmt, ein Atrium zu entwerfen und darum herumzubauen, so daß die Öffentlichkeit die Funde besichtigen konnte, wenn die Archäologen etwas Aufregendes entdeckten. Sie waren bereits über drei Meter unterhalb des alten Fundaments, was bedeutete, daß sie, wenn sie unten im Graben stand, auf eine Kiesschicht blickte, die zur Zeit Julius Cäsars die Oberfläche war.
    Es war Nachmittag, und nur ein paar bauschige weiße Wolken standen am strahlenden Frühlingshimmel, als die von Sir Eugene Penny angeführte Abordnung eintraf. Aufmerksam besichtigte er alles, kam in den Graben, hörte zu, während Dr. Dogget ihm erklärte, was sie gerade machten, stellte ein paar Fragen und ging dann wieder, nachdem er allen gedankt hatte. Als er Sarah vorgestellt wurde, gab er ihr höflich die Hand, schenkte ihr dann aber keinerlei Beachtung mehr. Niemand im Museum hatte eine Ahnung, daß ihre Familie eine große Brauerei besaß und daß Alderman Sir Eugene Penny ihr Cousin war. Es war ihr lieber so. Das Museum benötigte immer finanzielle Unterstützung, und wenn jemand geeignet war, an Geld heranzukommen, dann wahrscheinlich ihr Cousin, hatte sie gedacht.
    Nachdem er gegangen war, schritt Sarah ein paar Minuten am stillen Fluß entlang. Er war jetzt sauberer, als er es jahrhundertelang gewesen war; man konnte sogar wieder darin fischen. Er wurde auch sorgfältig reguliert. Nach einem letzten Blick auf die Tower Bridge und St. Paul's kehrte Sarah zur Ausgrabung zurück. Es war erstaunlich, wie still London sein konnte. Nicht nur in den großen Parks, sondern auch in großen, mauerumfriedeten Bezirken wie dem Temple oder in alten Kirchen wie St. Bartholomew's herrschte eine Stille, die einen um Jahrhunderte zurückzuversetzen schien. Sogar hier in der City bildeten die Bürogebäude, die hoch über den schmalen Straßen aufragten, einen Schutzschirm, so daß man den geschäftigen Londoner Verkehrslärm kaum hörte.
    Dr. Dogget war gegangen. Im Augenblick war noch eine andere Archäologin bei der Ausgrabung, und Sarah gesellte sich zu ihr. Dabei erinnerte sie sich an einen Vortrag, den John Dogget einer Gruppe älterer Schüler gehalten hatte. Er hatte die Arbeit des Museums und der Archäologen skizziert. Und dann, um seine Arbeit mit einem knappen Bild zu veranschaulichen, hatte er etwas gesagt, das ihr sehr gut gefiel: »Stellt euch vor, es ist Sommer. Wenn er zu Ende ist, fallen die Blätter ab und liegen auf dem Boden. Mit der Zeit verrotten sie, fast, aber nicht ganz. Im nächsten Jahr geschieht dasselbe. Und immer wieder. Ganz dünn und zusammengepreßt bildet all diese Vegetation Schichten, Jahr für Jahr. Ein natürlicher, organischer Vorgang. Etwas Ähnliches geschieht mit den Menschen, vor allem in einer Stadt. Jedes Jahr, jedes Zeitalter hinterläßt Spuren. Sie werden zusammengepreßt, verschwinden
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