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London NW: Roman (German Edition)

London NW: Roman (German Edition)

Titel: London NW: Roman (German Edition)
Autoren: Zadie Smith
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einen Blick nachbarschaftlichen Mitleids.
    – Blöde fette Kuh.
    Von der Frau aus zeichnet Leah mit den Fingern einen Springerzug in die Luft. Zwei Stockwerke hoch, ein Fenster weiter.
    – Da bin ich geboren.
    Von dort hierher, ein weiterer Weg, als man denkt. Eine Sekunde lang fesselt dieses regionale Detail Shars Aufmerksamkeit. Dann schaut sie weg, ascht auf den Küchenboden, obwohl die Tür offen ist und der Rasen keinen Meter entfernt. Vielleicht ist sie etwas beschränkt, bestimmt auch unbeholfen, oder aber einfach traumatisiert oder zerstreut.
    – Ganz schön weit gebracht. Gute Wohnung. Wahrscheinlich auch massig Freunde, Freitagabend auf die Piste und so.
    – Nicht direkt.
    Shar stößt eine kleine Rauchwolke aus und macht einen irgendwie wehmütigen Laut, nickt dabei immer wieder mit dem Kopf.
    – Voll vornehm, die Straße hier. Du bist die Einzige, die mich reingelassen hat. Der Rest würd einen nicht mal mit dem Arsch angucken.
    – Ich muss nach oben. Geld holen fürs Taxi.
    Leah hat Geld in der Hosentasche. Oben geht sie ins nächstbeste Zimmer, das Klo, schließt die Tür, setzt sich auf den Boden und heult. Sie streckt das Bein aus und schubst mit dem Fuß die Klopapierrolle aus der Halterung. Als sie sie gerade zu sich herrollt, klingelt es.
    – SKLINGELT! SKLINGELT! SOLL ICH ?
    Leah steht auf, versucht, sich an dem kleinen Handwaschbecken die Röte wegzuspülen. Sie findet Shar im Flur, vor einem Regal mit Büchern aus der Uni. Shar fährt mit dem Finger die Buchrücken entlang.
    – Hast du die alle gelesen?
    – Nein, nicht alle. Inzwischen hab ich gar nicht mehr die Zeit.
    Leah nimmt den Schlüssel von seinem Platz im mittleren Regalfach und öffnet die Haustür.
    Sie versteht gar nichts mehr. Der Fahrer, der am Törchen steht, macht eine Handbewegung, die sie nicht kapiert, zeigt zum anderen Ende der Straße und geht los. Shar folgt ihm. Leah folgt ihr. Sie entwickelt eine völlig neue Ergebenheit.
    – Wie viel brauchst du?
    Ein Schatten von Bedauern fällt auf Shars Gesicht.
    – Zwanzig? Dreißig ... zur Sicherheit.
    Sie raucht ohne Hände, presst den Qualm aus einem Mundwinkel.
    Das unbändige Schäumen der Kirschblüten. In einem Korridor aus Rosa taucht Michel auf, er kommt auf der anderen Seite die Straße entlang. Zu heiß für ihn – sein Gesicht ist patschnass. Das kleine Handtuch, das er an solchen Tagen immer bei sich hat, schaut aus seiner Tasche hervor. Leah reckt einen Finger in die Luft, bittet ihn damit, zu bleiben, wo er ist. Sie deutet auf Shar, die hinter dem Wagen nicht zu sehen ist. Michel ist kurzsichtig; er blinzelt in ihre Richtung, bleibt stehen, grinst unbehaglich, zieht sein Sakko aus, legt es sich über den Arm. Leah sieht ihn an seinem T-Shirt herumzupfen, die letzten Reste des Arbeitstags abschütteln: zahllose winzige Härchen, Schnipsel von Fremden, manche blond, manche braun.
    – Wer ist das?
    – Michel, mein Mann.
    – Der heißt wie ’ne Frau?
    – Er ist Franzose.
    – Aber hübsch – das gibt hübsche Babys!
    Shar zwinkert: die eine Gesichtshälfte grotesk verzerrt.
    Shar wirft die Zigarette weg und steigt in den Wagen, lässt die Tür offen. Das Geld verbleibt in Leahs Hand.
    – Ist er auch von hier? Kommt mir bekannt vor.
    – Er arbeitet in dem Friseursalon, an der Station. Er ist Franzose – aus Marseille. Aber schon ewig hier.
    – Und Afrikaner.
    – Ursprünglich, ja. Hör mal – willst du, dass ich mitkomme?
    Shar schweigt einen Moment. Dann steigt sie wieder aus und umfasst Leahs Gesicht mit beiden Händen.
    – Du bist echt ’n guter Mensch. Das war Schicksal, dass ich bei dir gelandet bin. Im Ernst! Du bist spirituell. Du hast was Spirituelles in dir.
    Leah umfasst Shars kleine Hand und überlässt sich einem Kuss. Shars Mund an ihrer Wange ist leicht geöffnet beim Dan- und schließt sich dann wieder im -ke. Und Leah antwortet etwas, was sie noch nie im Leben gesagt hat: Gott schütze dich. Sie lösen sich voneinander – Shar weicht verlegen zurück und dreht sich zum Wagen, ist schon halb fort. Fast trotzig drückt Leah ihr das Geld in die Hand. Doch schon jetzt droht das Erhabene des Erlebens zum Konventionellen, Anekdotischen zu verflachen: nur dreißig Pfund, nur eine kranke Mutter, kein Mord, auch keine Vergewaltigung. Nichts überlebt im Erzählen.
    – Wahnsinnswetter.
    Shar nimmt ihren Schal, um sich den Schweiß vom Gesicht zu tupfen, und sieht Leah nicht mehr an.
    – Morgen komm ich vorbei. Ich zahl’s zurück. Ich
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