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London NW: Roman (German Edition)

London NW: Roman (German Edition)

Titel: London NW: Roman (German Edition)
Autoren: Zadie Smith
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rief Natalie Blake. »Leah. Ich rede mit dir. Leah!«
    Sie hörte Spike heulen; er kam auf sie zugerannt, zerlaufene Silberfarbe im Gesicht, und war kurz darauf bei ihr, und sie nahm ihn auf den Schoß und versuchte, sich die Ungerechtigkeit, die ihm seiner Meinung nach geschehen war, anzuhören und zu begreifen. Ganz langsam drehte Leah den Kopf zu Natalie. Spike lag flach auf dem Schoß seiner Mutter. Leahs Nase war verbrannt und schälte sich.
    »Sieh dich nur an«, sagte Leah. »Mutter und Kind. Sieh dich doch nur mal an. Du siehst aus wie die beschissene Mutter Gottes.«
     
    Ein Kind. Kinder. Keine Babys mehr, nichts, was man einfach weiterhin steuern konnte. Wunderschön, undurchschaubar, und keineswegs ihre Arme und Beine oder sonst eine Erweiterung ihrer Person. Natalie drückte Spike so fest an sich, dass er protestierte. Diese Gewissheit war eine Art hehre Gabe, ganz unbeabsichtigt verschenkt. Sie wollte ihrer Freundin etwas ebenso Wertvolles zurückgeben. Und wäre Aufrichtigkeit ein weltliches Gut, das man fassen und behalten kann, wäre Aufrichtigkeit ein Gegenstand, vielleicht hätte Natalie Blake dann ja begriffen, dass das perfekte Geschenk in diesem Augenblick ein ehrlicher Bericht ihrer eigenen Schwierigkeiten und Uneindeutigkeiten gewesen wäre, klar benannt, ohne jede Verschleierung, Ausschmückung oder Beschönigung. Doch Natalie Blakes Selbstverteidigungs-, ihre Selbstschutzinstinkte waren einfach viel zu stark.
    »Ich werde mich jetzt nicht für meine Entscheidungen rechtfertigen«, sagte sie.
    »Mein Gott, Nat, wer verlangt das denn? Vergiss es einfach wieder. Ich will mich nicht mit dir streiten.«
    »Hier streitet ja auch keiner. Ich versuche nur zu begreifen, was eigentlich mit dir los ist. Ich kann nämlich einfach nicht glauben, dass du hier herumliegst und mit dem Hautkrebs flirtest, nur weil du kein Baby willst.«
    Leah drehte sich in der Hängematte um und wandte Natalie den Rücken zu.
    »Ich verstehe einfach nicht, warum ich so ein Leben habe«, sagte sie leise.
    »Was?«
    »Du, ich, wir alle. Warum dieses Mädchen und nicht wir. Warum der arme Kerl aus der Albert Road. Das ergibt für mich alles keinen Sinn.«
    Natalie runzelte die Stirn und verschränkte die Arme. Sie hatte eine schwierigere Frage erwartet.
    »Weil wir härter gearbeitet haben«, sagte sie und legte den Kopf auf die Rückenlehne der Bank, um den weit offenen Himmel zu betrachten. »Wir waren klüger, und wir wussten, dass wir nicht irgendwann bei anderen Leuten an der Tür betteln wollen. Wir wollten raus. Menschen wie Bogle – die wollten das einfach nicht genug. Tut mir leid, Lee, wenn du das eine hässliche Antwort findest, aber es ist die Wahrheit. Das gehört zu den Dingen, die man im Gerichtssaal lernt: Die Leute kriegen in der Regel das, was sie verdienen. Weißt du, ein Vorteil von Kindern ist ja, dass man nicht mehr so viel Zeit hat, depressiv in der Hängematte zu liegen und über solche abstrakten Fragen zu grübeln. Aus meiner Sicht schlägst du dich doch ganz gut. Du hast einen Mann, den du liebst und der dich liebt – und der im Übrigen auch nicht damit aufhören wird, wenn du ihm einfach sagst, was du empfindest. Du hast Arbeit, Freunde, Familie, einen Ort, wo du ...«, sagte Natalie und setzte ihre herrliche Liste fort, doch die war bereits zum selbstreferenziellen Automatismus geworden, und ihr einziger echter Gedanke galt Frank und dass sie unbedingt mit ihm reden wollte.
    »Reden wir von was anderem«, sagte Leah Hanwell.
    Michel kam über den Rasen, mit Naomi, einem Tablett mit Getränken, zwei Kindertassen und einer Flasche Weißwein nebst Gläsern.
    »Spricht sie?«, fragte er.
    »Sie spricht«, sagte Leah.
    Michel schenkte Wein für die Erwachsenen ein.
    »Bitte«, sagte Leah und nahm ihr Glas entgegen, »ich will das jetzt nicht vor den Kindern. Reden wir von was anderem.«
    »Ich glaube, ich weiß, was in der Albert Road passiert ist«, sagte Natalie Blake.
     
    Erst schickten sie eine Mail. An eine Website der Polizei für anonyme Hinweise. Aber das ließ die Spannung zu steil abfallen und war nicht sehr befriedigend, und hinterher starrten sie auf den Monitor und waren enttäuscht. Sie beschlossen, beim Polizeirevier in Kilburn anzurufen.
    »Zumindest«, sagte Leah Hanwell, wie von neuer Energie erfüllt, »ist Nathan Bogle für die Polizei von Interesse. Nach allem, was du erzählst. Und mit dem, was wir eh schon wissen. Über seinen Charakter. Zuallermindest ist er von
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