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London NW: Roman (German Edition)

London NW: Roman (German Edition)

Titel: London NW: Roman (German Edition)
Autoren: Zadie Smith
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an mit deinen Mädels? Schickst du sie zum Stehlen los? Gehen sie für dich anschaffen? Rufst du fremde Frauen an? Drohst du ihnen?
    Hey, hey, hey, immer mit der Ruhe, Mann. Du machst mich ganz konfus. Pass auf, wir halten zusammen, meine Mädels und ich. Mehr brauchst du nicht wissen. Sie passen auf mich auf. Ich auf sie. Wir sind viele und trotzdem eins. Wie die Finger an der Hand.
    Versteckst du dich vor irgendwem, Nathan? Vor wem versteckst du dich?
    Ich versteck mich vor niemandem! Wer sagt, dass ich mich verstecke?
    Wer ist das Mädchen, Nathan? Was stellst du mit deinen Mädels an?
    Du hast ja ’nen Schaden. Redest echt nur noch Irrsinn daher.
    Antworte mir! Übernimm Verantwortung! Du bist frei!
    Nee, Mann, da liegst du falsch. Ich bin nicht frei. Ich war noch nie frei.
    Wir sind alle frei!
    Aber ich leb eben nicht so wie du.
    Was?
    Ich leb nicht so wie du. Du weißt nichts über mich. Du weißt nichts über meine Mädels. Wir sind ’ne Familie.
    Komische Familie.
    ’ne andere gibt es nicht.

Hornsey Lane
    Hornsey Lane. Sagte Natalie Blake. Da wollte ich hin.
    So war es auch. Obwohl man einräumen könnte, dass es eigentlich erst in dem Moment so war, als sie die Brücke sah. Nathan sah sich um. Er kratzte sich die weiße Stelle am Nacken.
    Hier wohnt doch keiner. Wen willst du denn hier besuchen? Ist ja am Arsch der Welt.
    Geh heim, Nathan.
    Natalie hielt auf die Brücke zu. Die Straßenlaternen zu beiden Seiten hatten gusseiserne Pfähle und standen auf Fischen mit weit geöffneten Mäulern. Ihre Drachenschwänze wanden sich um den Sockel, und oben auf jeder Laterne saß eine orangefarbene Glaskugel. Sie leuchteten, sie waren so groß wie Fußbälle. Natalie hatte gar nicht mehr daran gedacht, dass diese Brücke nicht einfach nur einen Zweck erfüllte. Sie tat ihr Bestes, konnte die Schönheit aber nicht ganz ausblenden.
    Keisha, Mann, komm zurück. Ich red mit dir. Sei nicht so.
    Natalie stieg auf den ersten kleinen Vorsprung, nur wenige Zentimeter über dem Boden. Sie hatte nur ein Hindernis in Erinnerung, doch die knapp zwei Meter hohe Brüstung vor ihr war mit Stacheln versehen wie eine mittelalterliche Festung: Stacheln von oben und von unten, ein eisernes Stacheldraht-Imitat. So sollten die Menschen wohl daran gehindert werden, ins Nichts zu gehen.
    Keisha?
    Der Blick schraffiert. Im einen Kästchen St. Paul’s. Im anderen die Gurke. Ein halber Baum. Ein halbes Auto. Kuppeln, Türme. Quadrate, Rechtecke, Halbmonde, Sterne. Es war unmöglich, ein Gefühl für das Ganze zu entwickeln. Von hier oben zog sich die Busspur klaffend rot durch die Stadt. Die Wohntürme waren das Einzige, was noch einen Sinn ergab, jeder für sich und doch verbunden. Aus dieser Entfernung wirkten sie plötzlich logisch, Steinpfähle, in ein uraltes Feld gehauen, die darauf warteten, dass etwas auf ihnen zu liegen kam, eine Statue vielleicht oder auch ein Podest. Ein Mann und eine Frau kamen heran und stellten sich neben Natalie an die Brüstung. Schöner Blick, sagte die Frau. Sie sprach mit französischem Akzent. Sie klang alles andere als überzeugt von dem, was sie sagte. Nach kurzer Zeit ging das Paar weiter, den Hang hinunter.
    Keisha?
    Natalie Blake blickte in die Weite, nach unten. Sie versuchte, das Haus auszumachen, irgendwo am Fuß des Hangs, westlich von hier. Reihen identischer Backsteinschornsteine, die sich bis zu den Vororten erstreckten. Der Wind frischte auf, rüttelte an den Bäumen unter ihr. Sie fühlte sich, als wäre sie auf dem Land. Auf dem Land musste eine Frau, wenn sie ihren Kindern oder ihren Freunden oder ihren Eltern nicht mehr in die Augen sehen konnte – wenn sie in Schande gefallen war –, sich wahrscheinlich einfach nur in ein Feld legen und sich verabschieden, indem sie verschmolz, erst mit dem Gras, auf dem sie lag, dann mit dem Mulch darunter. Als Großstadtkind hatte Natalie Blake immer schon naive Vorstellungen von ländlichen Dingen. Aber wenn es um die Großstadt ging, irrte sie sich nie. Hier blieb nichts als ein Bruch – ein abrupter, vollständiger Abbruch. Sie sah die Tat klar und deutlich vor sich, sie stand ihr vor Augen wie ein Gegenstand in ihrer Hand – und dann rüttelte der Wind erneut an den Bäumen, und ihre Füße standen wieder auf dem Gehsteig. Die Tat blieb ungetan: eine Aussicht, die immer möglich war. Bald würde jemand anders die Brücke betreten und sie für sich beanspruchen, die Möglichkeit wie auch die Tat, so wie es mit grausiger Regelmäßigkeit
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