Lodernde Begierde
»Liebling« – sie hasste es, denn ihr dummes Herz machte dann jedes Mal einen kleinen Hüpfer. Ihm kam das Kosewort entschieden zu leicht über die Lippen. Eine Unmenge Frauen war wahrscheinlich schon von Lord Graham Cavendish so genannt worden – sei es spielerisch auf dem Tanzboden oder spielerisch im Schlafzimmer.
Sie hasste es, eine von vielen zu sein.
Doch irgendetwas an Graham war heute anders. Er war wirklich erschöpft, und zwar nicht weil er zu viel getrunken hatte und die ganze Nacht aufgeblieben war, um jemanden zu verführen. Er war so erschöpft, als wären seine Gedanken zu besorgt, um Ruhe zu finden.
Was lächerlich war, denn Graham sorgte sich um nichts. Sich sorgen beinhaltete schließlich, dass einem nicht alles egal war.
Wie auch immer. Er war hier und wollte wissen, woran sie arbeitete. Sie glättete ein letztes Mal ihre Unterlagen. »Ich bin noch nicht ganz fertig, aber ich glaube, es ist bisher mein Lieblingsmärchen.«
Er murmelte ermunternd, also holte sie tief Luft und fing an, ihm vorzulesen. Er hörte schweigend zu, sie spürte, wie mit jedem Atemzug die Anspannung von ihm abfiel.
»… und der reiche Mann heiratete ein zweites Mal. Seine neue Frau hatte bereits zwei Töchter. Sie waren schön und von anmutiger Gestalt, doch ihre Herzen waren kalt und böse …«
Er schnaubte. Sie sah auf. »Was ist so lustig?«
Er hielt die Augen geschlossen. »Warum sind in Euren Märchen die schönen Mädchen immer grausam?«
Sophie verzog leicht das Gesicht. »Oh, das entspricht doch der Wahrheit.«
Er öffnete die Augen. »Deirdre ist schön, aber sie ist sehr nett.«
Sophie zuckte die Achseln. Ihre Cousine Deirdre war schön wie eine blonde Göttin und statuenhaft, ohne dabei zu groß zu sein, durch Tessas manchmal grausame Erziehung war sie außerdem in den kleinen gesellschaftlichen Nuancen sehr versiert.
Sie war auch eigensinnig, aufrührerisch und mehr als nur ein wenig unerhört. Nur ein Mann, der so stark und selbstbewusst war wie Lord Brookhaven, hatte die starrsinnige Deirdre zähmen können. Sophie hatte Deirdre letztendlich ins Herz geschlossen, denn ihre Cousine hatte trotz ihres Starrsinns ein weiches Herz, aber Dee war nicht wirklich »nett«. Doch Sophie würde sich deshalb nicht mit Graham streiten. »Deirdre ist nur die Ausnahme, die die Regel bestätigt«, sagte sie wohlerzogen.
Er verdrehte die Augen. »Ich hasse es, wenn Leute so etwas sagen. Was soll das heißen? Entweder ist etwas eine Regel oder nicht – Ausnahmen bestätigen überhaupt nichts.«
Sophie öffnete den Mund, um ihn wegen seiner mangelnden Logik zu schelten, aber dann hielt sie inne. »So habe ich das noch nie gesehen.«
Da er diesen Punkt für sich entschieden hatte, gab er sich wohlwollend. »Tja, aber Tessa bestätigt wohl Eure Regel.«
Beide glucksten sie. Tessa war pures Gift, aus freien Stücken und aus Selbstsucht. So schön wie Deirdre, aber für ihre Gehässigkeit wohl bekannt, bot Tessa unzählige Angriffspunkte für Spott, indem sie einfach sie selbst war.
Sophie war ernsthaft versucht, Graham von Tessas letzten sexuellen Ausschweifungen zu erzählen, aber sie hielt sich zurück. Tessa war zwar ziemlich ekelhaft, aber sie war auch die einzige Anstandsdame, die Sophie hatte. Ohne sie würde man von Sophie erwarten, unverzüglich nach Acton zurückzukehren, und das konnte sie nicht zulassen.
Sophie wechselte das Thema. »In diesen Märchen gibt es viele Wahrheiten. Ich habe durch sie eine Menge über das Leben an sich gelernt.«
Er stieß ein ungläubiges Lachen aus. »Wahrheiten? Sie sind ganz bestimmt unterhaltsam, und es ist beruhigend zu hören, dass die Guten immer gewinnen, aber mit dem echten Leben hat das überhaupt nichts zu tun.«
Aber ich möchte, dass die Guten gewinnen.
Nein, Graham hatte recht. Sophie legte ihre Papierblätter in den Schoß. »Ich bin nicht ganz so naiv, wie Ihr glaubt, Gray«, sagte sie ernst. »Ich weiß genau, dass die Tessas und Lilahs dieser Welt normalerweise triumphieren. « Die Lilahs konnten sie sowieso mal gerne haben. »Aber das ändert nichts an meiner Überzeugung, dass es anders sein sollte.«
Sie erwartete, dass er sie auslachte, wie er es normalerweise tat, doch stattdessen schien er, wütend zu werden.
»Sophie, nichts entwickelt sich wirklich so, wie wir es erwarten.« Er stand auf, denn er war plötzlich zu aufgewühlt, um länger zu sitzen. »Ihr solltet nichts erwarten, von niemandem.«
Nicht einmal von dir?
Vor allem nicht von
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