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Liz Balfour

Liz Balfour

Titel: Liz Balfour
Autoren: Ich schreib dir sieben Jahre
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war völlig übertrieben. Er war noch keine fünfzig, hatte volles schwarzes Haar und eine beachtlich sportliche Figur. »Ganz die Mutter«, behauptete er. »Bis auf den Akzent. Dass ich da nicht gleich draufgekommen bin, so
ähnlich, wie ihr euch seht. Du klingst gar nicht mehr nach Myrtleville. Wie lange bist du schon in England? Zehn Jahre?«
    »Zwanzig.«
    »Niemals! Du bist doch erst …« Er schien nachzurechnen. »Was denn, so lange ist das schon her? Verdammt, wir werden nicht jünger. Das gilt für uns beide! Also, der Orangensaft geht auf mich.« Er lächelte versonnen. »Die kleine Alannah Sullivan«, hörte ich ihn murmeln, während ich mir mit dem Glas in der Hand einen Platz suchte und ihn den anderen Gästen überließ.
    Ich zog mein Handy aus der Tasche und rief bei meiner Mutter an, aber sie ging nicht ans Telefon. Sicher war sie schon unterwegs. Ich wollte hier auf sie warten.
     
    Heute Morgen war ich in London bei schönstem Frühlingswetter ins Flugzeug gestiegen und hatte mich auf die satten grünen Hügel des County Cork gefreut. Besonders der Anblick von Cork Harbour, einem der größten Naturhäfen der Welt, war aus der Luft atemberaubend. Doch als wir über Bristol flogen, war die Wolkendecke zu dicht, um etwas zu sehen, und kurz vor dem Landeanflug auf Cork informierte uns der Pilot, dass es an unserem Zielflughafen regnete und ein paar Grad kühler war als in London. Er hatte schamlos gelogen: Es schüttete, und der Wind fühlte sich eiskalt an. Trotzdem hatte ich versucht, der Busfahrt nach Myrtleville etwas abzugewinnen. Die Landschaft ist zunächst einfach nur schön. Die weite Fläche und der freie Horizont beruhigen das Auge und den Geist, bis man an die Küste kommt. Dann wird es spektakulär, der Anblick ist einzigartig, besonders, wenn die
Sonne die Farben leuchten lässt: grünes Land, blaues Meer, schwarze Felsen, gelber Sand. Aber das Wetter wollte heute nicht mitspielen. Es regnete oft im County Cork, es gehörte einfach dazu, und ich hatte es wohl vergessen, weil ich schon so lange nicht mehr hier gewesen war. Bei meinem letzten Kurzbesuch vor sieben Jahren hatte ununterbrochen die Sonne geschienen. Jedenfalls kam es mir in der Erinnerung so vor.
     
    In den vergangenen Wochen hatte meine Mutter so oft angerufen wie noch nie und mich geradezu angefleht, sie endlich wieder mal zu besuchen. Zuerst hatte es mir zeitlich gar nicht gepasst. Im Büro gab es extrem viel zu tun, und wir waren am Wochenende mit Freunden verabredet, die wir schon lange nicht mehr gesehen hatten. Ich versprach ihr, im Sommer zu kommen, aber davon wollte sie nichts hören. Dann sprach Benjamin das entscheidende Wort: »Deirdre hast du noch viel länger nicht gesehen. Fahr doch hin, Ally. Du musst ja nicht lange bleiben, und die Akten durchgehen kannst du dort auch.«
    Zwei Nächte sollte ich bleiben. Warum sie mich so dringend sehen wollte, war am Telefon nicht aus ihr herauszukriegen. Nur, dass es sehr wichtig wäre.
    Und jetzt konnte ich sie nicht erreichen. Ich nippte an meinem Orangensaft, blätterte in einer Zeitung vom Vortag und wartete. Ein alter, kahlköpfiger Mann mit fadenscheiniger, schmuddeliger Kleidung kam herein und begann, Flöte zu spielen. Ein jüngerer, gepflegt wirkender Mann begleitete ihn auf der Fiddle. Der Wirt wiegte den Kopf im Takt, und ein paar frühe Trinker hörten andächtig
zu. Jetzt, da sie wussten, wer ich war, nickten mir die Leute freundlich zu, wenn sich unsere Blicke trafen.
    Der alte Mann legte die Flöte zur Seite und stimmte ein Lied an. Es war ein altes irisches Volkslied, »The Wind that Shakes the Barley«: Es erzählt von einem jungen irischen Rebellen, der seine Liebste verlässt, um für sein geliebtes Irland zu kämpfen. Ich hörte zu, wie er Strophe für Strophe zum Besten gab und von Blut, Tod und gebrochenen Herzen sang. Die traurige Grundstimmung ließ mich wieder an meine Mutter denken, und ich machte mir Sorgen. Zu spät zu kommen war eine Sache, aber dass ich Deirdre seit der Landung weder auf dem Handy noch am Festnetz im Cottage erwischt hatte, ließ mich unruhig werden. Vielleicht hatte sie bei dem Regen einen Autounfall gehabt?
    Als der Mann verstummte, drückte ich ohne Hoffnung die Wahlwiederholung. Nichts. Ich fragte den Wirt nach einem Taxi, aber der lachte.
    »Heute ist ein verrückter Tag. Kein Tee, keine Taxis. Cal hilft aus, er hat gerade eine Fahrt nach Limerick. Ryan bringt seine Frau ins Krankenhaus. Sie ist schwanger, und bis das Kind
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