Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Live!

Live!

Titel: Live!
Autoren: Petros Markaris
Vom Netzwerk:
zu verbergen. »Herr Favieros«, stottert sie. »Nicht … Ich bitte Sie …«
    Sobald Patroklos die Nahaufnahme im Kasten hat, macht Favieros drei blitzschnell aufeinanderfolgende Bewegungen: Er richtet die Waffe gegen sich selbst, steckt sich den Lauf in den Mund und drückt den Abzug. Der Knall ist zeitgleich mit Komis Aufschrei zu hören. Eine rote Fontäne schießt von Favieros’ Kopf in die Höhe, während sein Hirn in die Kulissen spritzt, ein riesiges Aquarium mit verschiedenfarbigen kleinen Fischen. Favieros’ Körper sinkt vornüber, als hätte ihn im Polstersessel schlagartig der Schlaf übermannt.
    Die Komi ist aufgesprungen und weicht unwillkürlich in Richtung Ausgang zurück, doch die Stimme des Regisseurs schneidet ihr den Weg ab.
    »Bleib an deinem Platz, Aspasia!« schreit er. »Denk daran, daß wir in diesem Augenblick Geschichte schreiben! Der erste Selbstmord live im Fernsehen!« Die Komi schwankt einen Moment, dann wendet sie ihr Gesicht der Kameralinse zu, sowohl um eine Großaufnahme zu ermöglichen als auch um Favieros nicht mehr sehen zu müssen, und hält inne.
    Neben mir hat Adriani die Hände vors Gesicht geschlagen, wiegt sich hin und her wie die Frauen bei den traditionellen Totenklagen und flüstert: »O mein Gott, nein … o mein Gott, nein …«
    »Aspasia, sprich in die Kamera!« ist wieder die Stimme des selbsternannten Kommandanten zu hören. Und danach sein Einwurf: »Miltos, den Zoom auf Aspasia!«
    »Sehr geehrte Fernsehzuschauer«, ist Aspasias Stimme zu vernehmen, doch anstelle ihres Abbilds kommt eine trübe Einstellung ins Bild, voller Blutspritzer und Flecke.
    »Miltos, mach doch deine Linse sauber! Ich hab kein Bild!« ruft der Regisseur.
    »Womit soll ich sie denn abwischen?«
    »Mit deinem Hemdsärmel, ist mir doch egal. Ich will ein Bild.«
    »Welcher Arsch hat bloß die interne Leitung angelassen? Schnell ein Insert.«
    Die Stimmen und der Ton sind unterbrochen, und unten rechts auf dem Bildschirm erscheint die Aufschrift »ungekürztes Bildmaterial«.
    »Schalte doch ab!« ruft Adriani erbost. »Ungekürztes Bildmaterial – pah! So eine gewissenlose Meute!«
    »Ich schalte ab«, sage ich, »aber bereite dich darauf vor, daß du den Selbstmord in allen Nachrichtensendungen mindestens eine Woche lang sehen wirst.«
    »Aber wie ist ihm bloß eingefallen, sich vor laufender Kamera umzubringen?«
    »Die Seele des Menschen ist ein weites Land.« Ich flüchte mich in diese unbestimmte Antwort, weil wir, wenn wir diese Frage vertieften, uns über kurz oder lang in unsinnigen Vermutungen ergehen würden.
    »Jedenfalls ist alles zu einer bloßen Pose verkommen. Sogar die Selbstmorde.«
    Manchmal trifft Adriani genau ins Schwarze, ohne es zu merken. Was für einen Grund hatte ein erfolgreicher Geschäftsmann wie Jason Favieros, seinen Selbstmord öffentlich zu inszenieren? Oder hatte er vielleicht etwas anderes vorgehabt und im Verlauf des Abends umdisponiert und den Selbstmord vorgezogen? Aber was hätte er vorhaben sollen? Wollte er die Komi umbringen? Ich kann diese aufgetakelte Blondine zwar auf den Tod nicht ausstehen, aber daß jemand sie aus dem Grund umlegen könnte, scheint mir doch an den Haaren herbeigezogen.
    Eine andere Auffassung wäre, daß er seine Feinde und Konkurrenten bedrohen wollte. Doch wozu diente ihm der Revolver? Wollte er seine Konkurrenten via Kamera mit der Waffe einschüchtern? Ich bin, was Nachforschungen betrifft, außer Übung und reime mir lauter Unsinn zusammen.

4
    I ch habe eine weitere schlaflose Nacht hinter mir. Meine Schlafstörungen sind eine große Marter. Jeden Abend zittere ich vor dem Ausknipsen der Nachttischlampe. Fanis erklärt, das sei ein häufiger Begleitumstand der Genesung, und empfiehlt mir eine halbe Schlaftablette eine Stunde vor dem Zubettgehen. Ich verweigere aber selbst eine viertel Tablette, da man sich die Schlafmittel, wenn sie einmal zur Selbstverständlichkeit geworden sind, schwer wieder abgewöhnen kann. So bleibe ich bis in die Puppen hellwach und wälze mich im Bett hin und her.
    Meine gestrige Schlaflosigkeit hatte jedoch nicht die üblichen Begleiterscheinungen: weder entnervtes Stöhnen noch Schäfchenzählen, noch den nachmitternächtlichen Rundgang Küche-Wohnzimmer-Balkon. Ganz im Gegenteil, jedesmal, wenn mich Schläfrigkeit übermannen wollte, spritzte ich mir kaltes Wasser ins Gesicht, um wieder aufzuwachen. Mir ließ die Frage keine Ruhe, was Jason Favieros zum öffentlichen Selbstmord getrieben
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher