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Live!

Live!

Titel: Live!
Autoren: Petros Markaris
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haben könnte. Den privaten Selbstmord, im Büro oder zu Hause, hätte ich nachvollziehen können. Seine Geschäfte gingen vielleicht nicht gut, er hatte möglicherweise psychische Probleme, seine Frau betrog ihn, ein großer Skandal stand vor der Enthüllung, und er zog den Tod der Schande vor. Der »öffentliche« Aspekt paßte aber nicht ins Bild. Warum in aller Öffentlichkeit? Wieso sollte Jason Favieros seinen Tod zu einem Schauspiel gestalten? Favieros’ gesellschaftliche Klasse, die einer verschworenen Gemeinschaft gleicht, scheut vor lautem Trommelwirbel zurück, sie bewegt sich fern der Öffentlichkeit, in Büros mit dicken Spannteppichen, die jeden Laut ersticken. Und mit einem Mal sollte ein solcher Mensch die Einschaltquote mit seinem Tod in die Höhe schnellen lassen wollen? Ausgeschlossen, daß er plötzlich durchgedreht war. Er war vorbereitet in die Sendung gegangen, mit dem Revolver gleich neben seiner Brieftasche. Somit verfolgte der öffentliche Selbstmord einen anderen Zweck, wollte auf irgend etwas hinweisen.
    Adriani schlummert an meiner Seite mit ihrem steten, gedämpften Schnarchen – wie ein Spülkasten, der sich die ganze Nacht hindurch füllt. Sonst beiße ich vor Wut in die Kissen, doch gestern nacht habe ich es fast nicht gehört. Es war die erste durchwachte Nacht seit Monaten, die ich in vollen Zügen genoß und deren Ende ich nicht herbeisehnte.
    Seit einem Monat will mir das morgendliche Aufstehen jedesmal wie der Beginn einer Odyssee erscheinen. Ich male mir den Tag aus, der mich erwartet, das strenge Programm, ohne Neuerungen oder Abweichungen, und meine Füße weigern sich, den Bettvorleger zu berühren. Heute mache ich es mir, aus eigener freier Entscheidung, auf dem Bett genußvoll gemütlich. Ich habe die Wörterbücher um mich herum ausgebreitet und springe von einem zum nächsten. Die besten Erklärungen zum gesuchten Lemma finde ich bei Dimitrakos.
     
    Selbstmord = Selbsttötung, Suizid, Freitod, vorsätzliche Auslöschung des eigenen Lebens.
    Selbstmord begehen = sich entleiben, sich dem irdischen Richter entziehen, sich selbst richten, aus dem Leben flüchten, die Waffe gegen sich selbst kehren, sein Leben mit dem Tod sühnen. Nach christlicher Auffassung verwerflich und mit unehrenhaftem Begräbnis bestraft, nicht so bei Griechen, Römern, Japanern. Sepukku bzw. Harakiri, die in Japan unter den Samurai übl. Selbsttötung, war zugleich Beweis für Mut, Selbstbeherrschung und Reinheit der Gesinnung.
     
    »Fehlt dir was?« Adriani steckt ihren Kopf durch den Türspalt, und ihr Blick heftet sich beunruhigt auf mich.
    »Nein, mir geht’s prima.«
    »Warum stehst du nicht auf?«
    »Ich mache es mir eben gemütlich …«
    »Du fühlst dich nicht schlapp, oder?«
    »Nein. Weder schlapp noch überanstrengt von der vielen Arbeit.«
    Sie blickt mich an, überrascht von meinem leicht ironischen Tonfall, der in der letzten Zeit zugunsten der postoperativen Symptome verschwunden war. In Wahrheit frage auch ich mich, welcher Tatsache sich die unerwartete Trendwende, meine Gesundheit betreffend, verdankt. Der Gehirnwäsche, der mich Ousounidis gestern unterzogen hat? Oder Favieros’ öffentlichem Selbstmord? Eher dem letzteren. An diesem Selbstmord geht mir irgend etwas gegen den Strich, etwas juckt mich seit dem Anblick der Blutspritzer auf der riesigen Aquarienkulisse. Der Polizist in mir ist wieder zu sich gekommen, ist um Atem ringend vom Meeresgrund wieder an die Oberfläche emporgetaucht. »Blödsinn«, sage ich jedesmal zu mir selbst, wenn mein Grübeln an dieser Stelle in eine Sackgasse gerät. »Ich versuche nur ein Rätsel zu lösen, um die Zeit totzuschlagen.« Dennoch ist mir klar, daß das nicht wirklich zutrifft. Die Theatralik von Favieros’ Selbstmord macht mich einfach stutzig.
    Es ist mir nicht wohl dabei, wenn ich faul im Bett rumliege. Früher hatte ich deswegen ein schlechtes Gewissen, weil ich meinte, ich sollte diese Stunden besser im Dienst verbringen. In meinem jetzigen Zustand fühle ich mich dabei noch mieser. Ich stehe auf und beginne mich anzuziehen, während ich die ganze Zeit an Favieros denke. Erst als ich fertig bin, wird mir bewußt, daß ich zum ersten Mal seit Monaten zu Anzug und Krawatte gegriffen habe. Ich erblicke mich im Spiegel, der – wie bei alten Modellen üblich – an der Innenseite der Schranktür angebracht ist. Zumindest von der äußeren Erscheinung her erkenne ich den Polizisten wieder, und diese Selbstbestätigung tut mir
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