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Little Bee

Little Bee

Titel: Little Bee
Autoren: Chris Cleave
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Sarah stellte sich neben mich.
    »Was ist los?«, sagte sie.
    Ich nickte hinunter zu dem Wagen der Militärpolizei, der auf der Straße wartete. Zwei Männer in grüner Uniform mit Barett und Sonnenbrille lehnten daran. Einer von ihnen schaute hoch. Er sagte etwas, als er uns entdeckte, und dann schaute sein Kollege ebenfalls hoch. Sie starrten lange auf unseren Balkon, und dann zündeten sie sich Zigaretten an und setzten sich ins Auto, einer nach vorn und einer nach hinten, bei offener Tür, die schweren Stiefel auf dem Asphalt.
    »Ich glaube, es ist keine gute Idee, Geschichten zu sammeln«, sagte ich.
    Sarah schüttelte den Kopf. »Das sehe ich anders. Ich glaube, es ist die einzige Möglichkeit, dir Sicherheit zu verschaffen.«
    »Wie meinst du das?«
    Sarah wandte den Blick von der Straße ab.
    »Unser Problem besteht darin, dass du nur deine eigene Geschichte hast. Eine einzelne Geschichte macht dich schwach. Doch sobald wir hundert Geschichten haben, bist du stark. Wenn wir zeigen können, dass das, was in deinem Dorf passiert ist, auch in hundert anderen Dörfern passiert ist, haben wir die Macht auf unserer Seite. Wir müssen die Geschichten der Leute sammeln, die das Gleiche erlebt haben wie du. Wir müssen es unbestreitbar machen. Dann können wir die Geschichten an einen Anwalt übergeben und die Behörden wissen lassen, dass die Geschichten sofort an die Medien gehen, wenn dir etwas zustoßen sollte. Verstehst du? Ich glaube, das hat sich Andrew von diesem Buch erhofft. So wollte er Mädchen wie dich retten.«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Und wenn die Behörden keine Angst vor den Medien haben?«
    Sarah nickte langsam. »Das ist schon möglich. Keine Ahnung. Was meinst du?«
    Ich schaute hinaus auf die Türme von Abuja. Die großen Gebäude schimmerten in der Hitze, als wären sie unwirklich, ein Traum, und würden verschwinden, wenn man sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte.
    »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich weiß nicht, wie es in meinem Land ist. Bis ich vierzehn war, bestand mein Land aus drei Cassavafeldern und einem Limba-Baum. Und danach war ich in deinem. Also frage mich nicht, wie es in meinem Land ist.«
    »Hm«, machte Sarah. Sie wartete eine Minute und sagte: »Was sollen wir machen?«
    Ich schaute wieder auf die Stadt, die wir vom Balkon aus sehen konnten. Zum ersten Mal bemerkte ich, wie viel Raum dort war. Es gab breite Lücken zwischen den Häuserblöcken. Ich hatte die dunkelgrünen Rechtecke zunächst für Parks und Gärten gehalten, stellte nun aber fest, dass es einfach leere Stellen waren, die darauf warteten, bebaut zu werden. Abuja war eine unfertige Stadt. Ich fand es interessant, dass diese grünen Rechtecke der Hoffnung in meine Hauptstadt eingebaut waren. Dass mein Land seine Träume in einer durchsichtigen Tüte bei sich trug.
    Ich lächelte Sarah an. »Lass uns Geschichten sammeln gehen.«
    »Bist du sicher?«
    »Ich möchte zur Geschichte meines Landes gehören.« Ich deutete in die Hitze. »Siehst du? Sie haben Platz für mich gelassen.«
    Sarah hielt meine Hand ganz fest.
    »In Ordnung«, sagte sie.
    »Aber, Sarah?«
    »Ja?«
    »Es gibt eine Geschichte, die ich dir zuerst erzählen muss.«
    Ich erzählte Sarah, was geschehen war, als Andrew starb. Die Geschichte war schwer anzuhören und schwer zu erzählen. Danach ging ich hinein ins Hotelzimmer und sie blieb allein auf dem Balkon. Ich setzte mich zu Charlie aufs Bett, und er schaute sich Zeichentrickfilme an, während ich zuschaute, wie Sarahs Schultern bebten.
    Am nächsten Tag begannen wir mit der Arbeit. Früh am Morgen ging Sarah auf die Straße und gab den Militärpolizisten vor dem Hotel sehr viel Geld. Danach waren ihre Augen wie die Augen in den Gesichtern auf den Geldscheinen, die Sarah ihnen gegeben hatte. Sie sahen nichts als das Innere des Handschuhfachs im Polizeiauto und das Futter der Uniformtaschen. Die einzige Bedingung der Polizisten war, dass wir jeden Abend vor Sonnenuntergang wieder im Hotel sein mussten. Ich hatte die Aufgabe, Leute zu finden, die normalerweise Angst gehabt hätten, mit einer ausländischen Journalistin zu reden, aber mit Sarah sprachen sie, weil ich ihnen versicherte, dass sie ein guter Mensch war. Es waren Leute, die mir glaubten, weil ich ihre Geschichte teilte. Ich entdeckte, dass es in meinem Land viele von uns gab, Leute, die Dinge gesehen hatten, die die Ölfirmen gern verbergen wollten. Leute, die die Regierung zum Schweigen bringen wollte. Wir fuhren in einem
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