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Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland

Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland

Titel: Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland
Autoren: von Dirk Petersdorff
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oder weniger geschickt mein Vorspiel aufnahmen.
    Auf der Tribüne wird gelacht, die ersten Kundgebungsteilnehmer singen mit, schließlich beginnen die ersten Paare zu tanzen. Oskar hängt noch den Charleston «Jimmy the Tiger» an, der zur endgültigen Auflösung der Versammlung führt: «Das Volk tanzte sich von der Maiwiese», und Oskar kann zufrieden feststellen: «Gesetz ging flöten und Ordnungssinn».
    Das hat ein Kind getan, aber eben ein hellhöriges Kind, das eine Abneigung gegen Massenveranstaltungen und Ideologien besitzt. Das erzählende Ich, der dreißigjährige Oskar, kann seine zeitliche Distanz reflexiv ausnutzen, um hinzuzufügen, dass er sich nicht als Widerstandskämpfer darstellen möchte. Er habe auch nicht nur gegen braune Versammlungen getrommelt, sondern auch gegen rote sowie gegen Pfadfinder, den Kyffhäuserbund, Vegetarier und Zeugen Jehovas. Gerade deshalb konnte Oskars Aktion zu einer Schlüsselszene für die Intellektuellen der Bundesrepublik werden. Denn hier hatte der antiideologische Konsens, die Skepsis gegen Lehren mit Alleingültigkeitsanspruch,ein Bild gefunden: «Wer jemals eine Tribüne von hinten anschaute, recht anschaute, wird von Stund an gezeichnet und somit gegen jegliche Zauberei, die in dieser oder jener Form auf Tribünen zelebriert wird, gefeit sein».
    Hans-Ulrich Wehler hat in seiner «Deutschen Gesellschaftsgeschichte 1949–1990» eine Gruppe von Intellektuellen charakterisiert, die in den späten Zwanziger- und Dreißigerjahren geboren wurden, als Kinder und Jugendliche noch den Nationalsozialismus und den Krieg erlebten, um dann «die neue Republik als unerwartete zweite Chance mit prinzipieller Zustimmung, sogleich aber auch mit kritischer Aufmerksamkeit zu begleiten». Für sie war es selbstverständlich, sich neben ihren Kernberufen in der politischen Öffentlichkeit zu engagieren. In diesen Generationszusammenhang gehören etwa der Philosoph Jürgen Habermas, der Soziologe Ralf Dahrendorf, die Juristen Ernst-Wolfgang Böckenförde oder Dieter Grimm sowie Wehler selbst. Diese Gruppe ließ nie einen Zweifel daran, dass sie die Bindung der Bundesrepublik an den Westen für richtig hielt, damit auch das Modell einer offenen Gesellschaft, in der kein verbindlicher Lebenssinn mehr vorgegeben wird. Damit unterschied sich diese Gruppe, die die Bundesrepublik seit den Sechzigerjahren zu prägen begann, von älteren Intellektuellenverbindungen.
    Wenn Grass grundsätzlich in diesen Generationszusammenhang gehört, dann ist seine Oskar-Figur im Unterschied zu späteren Figuren gerade deshalb so eindringlich geraten, weil sie nicht nach einem moralischen Plan oder als Verkörperung von Ideen entworfen ist. Diese Figur ist aufklärerisch tätig, und ihre Frechheiten ziehen den Leser an; aber Oskar handelt auch heimtückisch und grausam. Um an seinen wichtigsten Besitz, eine neue Trommel, zu gelangen, ist er zu höchst fragwürdigen Handlungen bereit. Er geht über Menschenleben, führt sogar den Tod seines Vaters herbei und ist am Tod anderer, ihm nahestehender Personen beteiligt. Dann wieder ist Oskar zu starken Gefühlen in der Lage, wenn er seiner sterbenden Großmutter das kaschubische «Babka, Babka» hinterherruft–«und ging, ging ohne mich, ging ohne Oskar davon».
    Die Literaturwissenschaft hat auf eine länger zurückreichende Tradition hingewiesen, in die die Oskar-Figur gehört. Das ist der Picaro- oder Schelmenroman, der in der deutschen Literatur mit Grimmelshausens (um 1622–1676) «Simplicissimus» sein wichtigstes Beispiel besitzt. Der pikareske Held muss sich auf dem Kampfplatz der Welt mit List und Klugheit durchschlagen. Selbst wenn er sein Leben rettet, findet er immer nur kurzzeitiges Glück, dann wieder neuen Schmerz. Er sehnt sich nach einem Asyl in der Welt, so wie Oskar sich in seinem Gitterbett geschützt fühlt. Auch den Blick hinter die Masken und Kulissen hat Oskar von seinen barocken Vorfahren geerbt. Aber dort, wo Grimmelshausen auf ein Jenseits blicken kann, hat Oskar nur noch sein Trommeln. Und sein Autor, Günter Grass, hat seine Sprache, die er virtuos, metaphernreich, verschlungen, verspielt, manchmal auch manieriert zum Klingen bringt. So lässt der Erzähler das Brausepulver in Marias Bauchnabelhöhle aufschäumen: «Sie beugte sich vor, wollte mit der Zunge die brausenden Himbeeren in ihrem Bauchnabeltöpfchen abstellen», kommt aber nicht heran.
    Mir jedoch lag Marias Bauchnabel nahe, und ich vertiefte meine Zunge in ihm, suchte
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