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Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland

Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland

Titel: Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland
Autoren: von Dirk Petersdorff
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Himbeeren und fand immer mehr, verlor mich so beim Sammeln, kam in Gegenden, wo kein nach dem Sammelschein fragender Förster sein Revier hatte, fühlte mich jeder einzelnen Himbeere verpflichtet, hatte nur noch Himbeeren im Auge, Sinn, Herzen, Gehör, roch nur noch Himbeeren, war so hinter Himbeeren her, dass Oskar nur nebenbei bemerkte: Maria ist zufrieden mit deinem Sammelfleiß.
    Diese ästhetische Dynamik besitzt auch die Novelle «Katz und Maus», die zwei Jahre nach der «Blechtrommel» erschien und zusammen mit dem Roman «Hundejahre» die sogenannte «Danziger Trilogie» bildet. Auch sie geht also aus jenen lebensgeschichtlichen Erfahrungen hervor, die Grass bedrängten und nach ästhetischem Ausdruck verlangten. In der Novelle verzichtet er auf jene phantastischen Elemente, die in der «Blechtrommel» Staunen erregten, entwirft dafür aber eine spannungsreiche Figurenkonstellation. Der Ich-Erzähler Pilenz berichtetrückblickend über seine Erlebnisse mit der Hauptfigur Joachim Mahlke. Gemeinsam besuchten sie die Schule, verbrachten ihre Freizeit auf Sportplätzen und am Meer, waren Teil einer Jungengruppe, bevor Mahlke in der Endphase des Zweiten Weltkriegs Soldat wurde und als Panzerschütze einen hohen Orden, das Ritterkreuz, erhielt. Am Ende steht der mutmaßliche Tod Mahlkes, der von einem Tauchgang zu einem versunkenen Minensuchboot nicht zurückkehrt.
    Pilenz fühlt sich Mahlke gegenüber schuldig und vergleicht seine Erzählung mit einer Beichte. Denn Mahlke besaß mit einem ausgeprägten Adamsapfel ein körperliches Merkmal, das ihn zum Außenseiter werden ließ, der um Anerkennung kämpfen musste. Auf diesen Adamsapfel aber hat Pilenz die Umwelt aufmerksam gemacht. Der Anfang der Erzählung zeigt die Jungengruppe, die in einer Spielpause auf dem Schlagballfeld im Gras liegt. Durch das Gras streicht eine Katze, die von Pilenz beobachtet wird:
    Die Katze kam übend näher. Mahlkes Adamsapfel fiel auf, weil er groß war, immer in Bewegung und einen Schatten warf. Des Platzverwalters schwarze Katze spannte sich zwischen mir und Mahlke zum Sprung. Wir bildeten ein Dreieck. Mein Zahn schwieg, trat nicht mehr auf der Stelle: denn Mahlkes Adamsapfel wurde der Katze zur Maus. So jung war die Katze, so beweglich Mahlkes Artikel – jedenfalls sprang sie Mahlke an die Gurgel; oder einer von uns griff die Katze und setzte sie Mahlke an den Hals; oder ich, mit wie ohne Zahnschmerz, packte die Katze, zeigt ihr Mahlkes Maus: und Joachim Mahlke schrie, trug aber nur unbedeutende Kratzer davon.
    Damit, so sieht es jedenfalls Pilenz, beginnt das Unglück, ist Mahlke stigmatisiert. Aber warum beging Pilenz eigentlich diese Handlung? Weil er sich langweilte, weil er Zahnschmerzen hatte, weil das Böse einen Reiz ausübt. Er handelt nicht überlegt, nicht vernunftgesteuert. Ein uraltes Spiel beginnt, in dem Mahlke zur Maus wird, zum Gejagten. Wie alt dieses Spiel ist, darauf verweist die Metaphorik des Adamsapfels: Hier wiederholt sich der erste Sündenfall. Grass denkt anthropologisch und christlich: Immer wieder gibt es Täter und Opfer, Starkeund Schwache; die Menschen sind in Naturkonstellationen gefangen.
    Im Fortgang der Handlung hängt sich Mahlke einen Schraubenzieher, einen sogenannten «Puschel» und ein Marien-Medaillon um den Hals, um von seiner Anormalität abzulenken. Maria verehrt er auch, allerdings in eigenwilliger Form, indem er sie ganz auf eine Schutzfunktion reduziert: An Gott kann er nicht glauben, doch Maria besitzt die Fähigkeit, den Bann zu lösen, der auf ihm lastet. Gleichzeitig muss Mahlke sich sozial hervortun, wird der beste Schwimmer und Taucher der Gruppe, schließlich auch ihr bester Onanierer. Die endgültige Lösung seiner Probleme scheint sich abzuzeichnen, als in der Schule ein Kriegsheld und Ritterkreuzträger einen Vortrag hält. Denn da man diesen Orden vor dem Hals trägt, wäre der körperliche Makel auf ungezwungene Weise verdeckt. Mahlke stiehlt das Ritterkreuz, wird von der Schule verwiesen und möchte später, als er es durch militärische Leistungen selber erworben hat, eben in seiner alten Schule einen Vortrag halten, der ihm verweigert wird. Der Schulleiter handelt nach Prinzipien und sieht nicht die psychische Not des früheren Schülers.
    Damit erhält die Handlung eine gesellschaftliche und politische Dimension. Selbst wenn es zu allen Zeiten Jäger und Gejagte gibt, wenn immer Außenseiter um Anerkennung ringen müssen, so bleibt doch die Frage, in welche Richtung
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