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Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland

Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland

Titel: Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland
Autoren: von Dirk Petersdorff
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konstatierten «muffigen» Geist dieser Zeit; er geht aus autoritären Mentalitäten, rigiden Normen, auch aus intellektueller Enge hervor. Doch daneben gab es das Ergreifen neuer Lebenschancen in einer Welt, die sich zunehmend Einflüssen von außen öffnete, die lernte, mit der Verschiedenheit der Lebensstile umzugehen.
    Wenn von der «langsamen Gewöhnung an die politische Kultur einer Demokratie» (Axel Schildt), wenn vom Aufbruchsgeist dieser Zeit in der Literatur kaum etwas zu spüren ist, dann ist diese einseitige Wahrnehmung erklärungsbedürftig. Es lässt sich fragen, ob hier eine lang bestehende Aversion der deutschen Intellektuellen gegenüber dem Typ der liberalen Gesellschaft weiterwirkt. Diese Gesellschaft lebt, wie es der Philosoph Jürgen Habermas formuliert, ohne «konsensstiftenden weltanschaulich-religiösen Einbettungskontext» und öffnet stattdessen dem Einzelnen «Sphären der Willkürfreiheit und der autonomen Lebensgestaltung». Ein solcher Gesellschaftstyp kollidiert mit dem Selbstverständnis von Intellektuellen, die sich eine soziale Ordnung so vorstellten, dass sie auch durch gemeinsame Überzeugungen verbunden sei, einen ‹Geist› besitze, für dessen Formulierung sich wiederum die Intellektuellen als zuständig ansahen. Ein Auseinanderlaufen der Lebenswege wurde als Verlust und Gefahr gewertet, nicht als Gewinn von Vielfalt und Individualität, den die Fünfzigerjahre eben auch darstellten.
    Kehrt man zu Enzensberger zurück, dann erkennt man, dass die Literatur sich nicht auf eindeutige Aussagen reduzierenlässt. Denn sein Gedicht «Ins Lesebuch für die Oberstufe» erhält einen Widerspruch und Stachel dadurch, dass es einerseits für politische Gebrauchsliteratur und gegen die hochkulturelle Form der Ode plädiert, andererseits in seinem Rhythmus, seinem Satzbau und seinem Vokabular die Sprechweise der Ode nachahmt. Es handelt sich um eine Ode gegen die Oden, die neben ihren Appellen auch eine Klangwirkung besitzt und damit auch die Eigenständigkeit ästhetischer Wirkungen bewahrt. Diese Fähigkeit, sich selbst zu widersprechen, behielt Enzensberger in den folgenden Jahrzehnten bei. Er wurde zum Typ des beweglichen Intellektuellen, den eine fortgesetzte genaue Beobachtung der ihn umgebenden Gesellschaft dazu brachte, seine Positionen zu revidieren.
    Wenn man in der Literatur die wieder erwachte Lebensfreude und den Witz vermisst, dann ist eine entspannte Wahrnehmung der Bundesrepublik in der populären Kultur, besonders im
Schlager
zu finden. Mit dem steilen und kontinuierlichen Anstieg der Löhne und Gehälter, mit dem Zuwachs an Freizeit und mit technischen Fortentwicklungen wuchs auch die Bedeutung der Medien. Dabei spielte der Rundfunk, der sich nahezu flächendeckend durchsetzte und seit der Einführung der Ultrakurzwelle Musik in verbesserter Qualität senden konnte, die Hauptrolle. Das Rundfunkgerät bildete ein Zentrum der Wohnungen, und dementsprechend waren die auf Massentauglichkeit angelegten Schlager geeignet, das Selbstverständnis größerer Gesellschaftsgruppen zu formulieren. Ein berühmtes Beispiel für die Suche nach einem solchen Selbstbild stellt der «Trizonesien»-Song (1948) dar. Er spielt auf die Einteilung des westlichen Deutschland in drei Besatzungszonen an und dokumentiert deutlich das Bewusstsein eines Umbruchs:
    Mein lieber Freund, mein lieber Freund,
die alten Zeiten sind vorbei,
ob man da lacht, ob man da weint,
die Welt geht weiter, eins, zwei, drei.
Ein kleines Häuflein Diplomaten
macht heut die große Politik,
sie schaffen Zonen, ändern Staaten.
Und was ist hier mit uns im Augenblick?
    Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien,
Hei-di-tschimmela-tschimmela-tschimmela-tschimmela-bumm!
Wir haben Mägdelein mit feurig wildem Wesien,
Hei-di-tschimmela-tschimmela-tschimmela-tschimmela-bumm!
    Da werden rhetorisch geschickt Bevölkerungsgruppen einbezogen, die den Untergang des ‹Dritten Reiches› ‹belachen› oder ‹beweinen›, da wird die Erleichterung darüber ausgesprochen, dass die Welt auch nach der totalen Katastrophe ihren Lauf nimmt, und da wird etwas larmoyant die Fremdbestimmtheit der Deutschen beklagt. Die ironische Metapher der «Eingeborenen» ist so gewählt, dass sie die Einfachheit des Lebens in einer zerstörten Umwelt erfasst, auf den Vorwurf der Siegermächte reagiert, die Deutschen seien ‹Barbaren›, und ihn gleichzeitig durch Komik entschärft. Gespenstisch wird es allerdings, wenn es im Refrain heißt: «Wir sind zwar
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