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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition)
Autoren: Emmanuel Carrère
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so, aber es ist klar, dass er komplett aus dem Rennen ist. Die historische Gelegenheit, vorausgesetzt, es hat sie wirklich gegeben, ist vorbei. Der durch tausend Schikanen gebrannte Kasparow hat nicht einmal versucht, Kandidat zu sein, und nach dem, was man noch nicht einmal sein Scheitern bei den Präsidentschaftswahlen nennen kann, existiert das Bündnis Drugaja Rossija nicht mehr. Eduard jedoch gibt nicht auf. Er hat eine neue Bewegung gegründet: Strategie 31 , der Name nimmt Bezug auf den Artikel 31 der Verfassung, der die Demonstrationsfreiheit garantiert. Um von diesem Recht Gebrauch zu machen, versammelt man sich an jedem 31. eines Monats, sofern es einen gibt, auf dem Triumph-Platz. In der Regel gibt es etwa hundert Demonstranten und fünfmal so viele Polizisten, die jeweils einige Dutzend der ersteren festnehmen. Auf diese Weise verbringt Eduard regelmäßig einige Tage im Gefängnis. Die Auslandskorrespondenten machen der Form halber eine Meldung darüber. Daneben versucht er, eine »Nationalversammlung der oppositionellen Kräfte« auf die Beine zu stellen und ihr vorzustehen, ein Projekt, das einige alte Demokraten und Menschenrechtler begrüßen, Kasparow aber hintertreibt, indem er eine eigene Plattform aufgestellt hat. Die beiden sind jetzt Rivalen, auch wenn mir ihre Rivalität nicht be sonders heftig erscheint: Eduard ist glücklich, dass seine Internet seite häufiger besucht wird als die Kasparows.
    Was noch? Seine literarische Produktion. Seit unserem letzten Treffen hat er drei Bücher veröffentlicht: Gedichte, eine Sammlung von Artikeln und Erinnerungen an seine serbischen Kriege. Aber Schreiben sei nicht mehr wirklich seine Sache. Es bringe heutzutage zu wenig, die Auflagen lägen bei etwa fünf- bis sechstausend Exemplaren, und es gebe keine Nachdrucke. Eher noch verdient er seine Brötchen mit Zeilen für russische Magazine im Stil von Voici oder GQ .
    So, wir sind durch mit der Tagesordnung. Es ist vier Uhr, und es ist dunkel geworden, man hört das Brummen des Kühlschranks. Er schaut auf die Ringe an seinen Fingern und zupft an seinem Musketier-Spitzbart: Das ist jetzt nicht mehr Zwanzig Jahre später , sondern Der Vicomte von Bragelonne . Ich habe all meine Fragen gestellt, und ihm kommt nicht in den Sinn, mir eine zu stellen, ich weiß auch nicht, zum Beispiel über mich: wer ich bin, wie ich lebe, ob ich verheiratet bin, ob ich Kinder habe? Ob ich lieber warme oder kalte Länder mag? Stendhal oder Flaubert? Natur- oder Fruchtjoghurts? Was für Bücher ich schreibe, da ich Schriftsteller bin. Er sagt, es sei Teil seines Lebensprojekts, sich für andere zu interessieren, und sicher würde er sich für mich interessieren, wenn er mir im Gefängnis begegnet und ich eines hübsch blutigen Verbrechens schuldig wäre, aber das ist nicht der Fall. Der Fall ist: Ich bin sein Biograf. Ich frage ihn, und er antwortet, und wenn er mit seiner Antwort fertig ist, schaut er auf seine Ringe und wartet auf die nächste Frage. Ich sage mir, es ist ausgeschlossen, mir mehrere Stunden mit einer solchen Art von Interview anzutun, und ich kann auch mit dem, was ich schon habe, gut zurechtkommen. Ich stehe auf und bedanke mich für den Kaffee und die Zeit, die er mir gewidmet hat; und auf der Türschwelle stellt er mir schließlich doch eine Frage:
    »Trotzdem, seltsam«, sagt er, »warum wollen Sie ein Buch über mich schreiben?«
    Die Frage bringt mich in Verlegenheit, aber ich antworte aufrichtig: Weil er ein faszinierendes Leben hat – oder gehabt hat, ich erinnere mich nicht, welche Zeitform ich gebrauchte –, ein romanhaftes, gefährliches Leben, ein Leben, mit dem er gewagt hat, Geschichte mitzuschreiben.
    Seine Antwort macht mich sprachlos. Mit seinem kurzen, trockenen Lachen sagt er, ohne mich anzuschauen:
    »Ein Scheißleben, ja.«
    3
    Ich mag dieses Ende nicht, und ich denke, auch er würde es nicht mögen. Ich glaube auch, jeder Mensch, der es wagt, ein Urteil über das Karma eines anderen zu fällen und selbst über das eigene, kann gewiss sein, dass er sich irrt. Eines Abends vertraue ich meine Zweifel meinem älteren Sohn Gabriel an. Er ist Cutter, wir haben gerade zusammen zwei Drehbücher fürs Fernsehen geschrieben, und ich führe gern Drehbuchautoren-Diskussionen mit ihm von der Art: Diese Szene kaufe ich dir ab, diese nicht.
    »Im Grunde stört es dich, ihn als loser dastehen zu lassen«, sagt er zu mir.
    Ich gebe ihm recht.
    »Und warum stört es dich? Weil du Angst hast, ihm weh
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