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Lilienrupfer

Lilienrupfer

Titel: Lilienrupfer
Autoren: Marie Velden
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Leben hinterlassen würde, und beließ es dabei.
    Er ging und nahm meine Jugend mit. An all den Erinnerungen lag mir plötzlich nichts mehr. Der frühere Zauber war von ihnen genommen, sie rochen schal und abgestanden. Und das stimmt mich noch immer traurig. Aber manchmal glaube ich: Er ist noch verlorener als ich.
     
    Gute Nacht
    Undine
    ***
    »Post für Sie«, rief eine Krankenschwester am nächsten Morgen und legte mir einen dicken Brief auf das Bett. »Ich komme gleich noch mal wieder. Mit der Thrombose-Spritze.«
    Ich nickte ergeben und sah ihr nach, wie sie mit flotten Schritten das Zimmer verließ.
    Franz Romer, z. Zt. Staatstheater Wiesbaden, stand auf der Rückseite des Umschlags. Ich hätte allerdings auch so gewusst, von wem der Brief stammte. Niemand sonst, den ich kannte, setzte solch barocke Buchstaben auf ein Blatt Papier wie Franz Romer das tat. Vier Wörter pro Zeile, höchstens fünf. Alles darüber bereitete ihm Krämpfe in den Händen. Ich riss das Kuvert auf und sieben fortlaufend nummerierte Postkarten fielen mir entgegen.
     
    Meine liebe Undine! Bitte entschuldige meine verspäteten Genesungswünsche, aber im Moment geht es drunter und drüber. Was machst Du nur für Sachen? Einfach so vom Rad zu fallen! Gott sei Dank ist Dir nicht noch Schlimmeres passiert, wo ich demnächst doch auf Dich zähle. Also bitte: Streng Dich an und werde ganz schnell wieder gesund.
    Letzte Woche war ich in Bremerhaven, Verhandlungen wegen der ›Périchole‹, die ich im Herbst dort inszeniere, Fundus-Besichtigung, Besprechung mit dem Ensemble, am Abend eine Operette (Du wärst bei dieser Inszenierung ausgerastet. Und zwar vor Zorn über so viel Blödheit). Am Schluss musste ich diese Groteske beim Intendanten natürlich loben.
    Am nächsten Tag Rückfahrt nach Wiesbaden, mit Alex am Steuer, der die ganze Zeit über hundertachtzig fuhr.
    In Wiesbaden nichts als Intrigen und Streit mit dem GMD, dem ich schließlich die Meinung gegeigt habe. Ob die Sache mit meinem Elisabeth-Ballett dort noch klappt, steht gerade wieder in den Sternen. Die Tänzerallerdings sind sehr nett und lauter Tunten. Alles Weitere erzähle ich Dir, wenn ich wieder zu Hause bin. Also nächste Woche. Kopf hoch! Es grüßt Dich herzlich Dein alter Franz.
    P.S.   Ich hoffe, Du hast die Sache mit diesem Hannes jetzt endlich überstanden. Du weißt ja, wenn ich nicht so schrecklich dick und asbach-uralt wäre, dann hätte ich Dich schon längst geheiratet.
     
    Ich lachte. Das war echt Franz. Zusammen hatten wir schon etliche Inszenierungen auf die Bühne gebracht, und jetzt, nachdem ich seinen Brief gelesen hatte, begann ich mich auf die nächste zu freuen. In drei Wochen würden wir loslegen. Mit ›A Midsummer’s Night Sex Comedy‹ von Woody Allen. Franz arbeitete, wie er schrieb: Bunt, groß, üppig. Ein Witz musste durch einen noch besseren getoppt werden. Nie war etwas gut genug. Er träumte von Hauptdarstellern wie Nicole Kidman und Kevin Kline. Franz kannte kein Limit, Franz kannte nur das Übermaß. Er war zynisch, verschwenderisch, archaisch und verletzlich. Ein beleibter, in die Jahre gekommener Jean Reno, der süßen Wein mochte, dem keine menschliche Regung fremd war, der sein letztes Hemd geben würde, bäte ihn jemand darum, der in der einen Sekunde vor Witz und Kraft strotzte und in der nächsten in Tränen ausbrach. Er war schwierig, ihm schwoll der Kamm, wenn einer der Schauspieler seine Auffassung vom Theater nicht teilte, aber niemand freute sich mehr ein Bein aus als er, wenn sie eine Szene hinreißend spielten. Ich hing sehr an ihm.
    Ich las seinen Brief ein zweites Mal und atmete durch. Es wurde zwar nicht alles gut, aber es blieb auch nicht alles schlecht. Draußen kroch die Sonne langsam hinterden Wolken hervor. Es gab Menschen, die auf mich warteten. In spätestens einer Woche käme ich hier heraus. Hannes würde in meinem Kopf immer kleiner werden, bis ich irgendwann nur ein- oder zwei- statt fünfzigmal am Tag an ihn denken würde, und in drei Wochen begannen die Proben. Ich würde mich einfangen lassen von diesem Durcheinander aus Menschen, Farben, Musik und Licht von Ideen, die erst für sagenhaft befunden und gleich darauf verworfen wurden, die für Streitereien und Gelächter sorgten, und von der allmählich aufsteigenden Aufregung vor dem Premierenabend. Jeder Tag würde ein Stückchen von der alten Undine zurückbringen, bis sie wieder vollkommen hergestellt war. Ich blickte aus dem Fenster und sah, dass die
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