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Lilienrupfer

Lilienrupfer

Titel: Lilienrupfer
Autoren: Marie Velden
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Fenstern, in deren Scheiben sich mein Bett spiegelte. Es war eine sturmumbrauste Nacht ganz im Sinne der Schwestern Brontë. Schaudernd zog ich die Decke ein Stück höher, las die E-Mail noch einmal durch, korrigierte ein paar Fehler und schickte sie schließlich an die von mirselbst gebastelte elektronische Adresse r-williams@allnet. com.
    Bis heute frage ich mich, ob dies die Nacht war, in der mein Leben jenen Schubs bekam, der die bisherige Trödelei auf einer wenig aussichtsreichen Einbahnstraße in ein Querfeldeinrennen verwandelt hat. Vielleicht hatte aber auch schon alles in der Nacht vom 16.   November 2001 begonnen, als Robbie Williams um 22.45   Uhr auf dem Bildschirm erschien und an einer Feuerwehrstange auf die Bühne der Royal Albert Hall rutschte.
    ›They can’t take that away from me‹, sang er später in der Show, und dasselbe gilt auch für mich. Wer weiß, wie es gekommen wäre, hätte ich damals nicht vor dem Fernseher gesessen. Auf jeden Fall nicht so.
    ***
    Am nächsten Morgen kam zum ersten Mal die Ergotherapeutin zu mir. Sie hieß Julia Lambert, und vor Staunen fehlten mir die Worte. Denn Julia Lambert ist für mich nicht einfach bloß ein Name.
    Julia Lambert ist vielmehr
die
zentrale Figur in Somerset Maughams Roman ›Theater‹. Das Gesamtwerk des Autors ist in meinem Bücherschrank ohne Konkurrenz. Ich liebe jede einzelne seiner Geschichten. Dass an diesem Punkt in meinem Leben eine Frau dieses Namens vor mir stand, war in meinen Augen ein Wunder. Ein Zeichen, ein kleines blaues Licht.
    Ich schätzte sie auf Mitte vierzig. Ihr Händedruck war fest, die Gesichtszüge klar, der Ausdruck ihrer blauen Augen prüfend und distanziert, ihre Stimme von bestimmter Sanftheit. Sie war jener Typ von Frau, der selbst aus der›Wilden 13‹ Herren macht, und auch ich nahm etwas von einer gehorsamen Elevin an, als sie begann, mir die Übungen zu erklären, die meinem Arm schnellstmöglich seine Bewegungsfähigkeit zurückgeben sollten.
    »So ist es gut«, sagte sie, nachdem sie mir geholfen hatte, die Schiene abzunehmen und mich eine anstrengende Übung machen ließ. »Wenn Sie es schaffen, machen Sie das jetzt bitte zwanzigmal.« Anschließend drückte sie mir eine Art Knetball in die Hand, den ich rollen und neu formen musste.
    Außer den leisen Anweisungen sagte sie nichts, verlor nicht einmal eine kleine Bemerkung über das Wetter. Nur hin und wieder taxierte sie mein Gesicht mit einem Blick, der an das plötzliche Aufleuchten von Scheinwerfern erinnerte, und gab mir das unbehagliche Gefühl, sie blicke auf den Grund meiner Seele.
    Nach einer Dreiviertelstunde verabschiedete sie sich mit einem knappen »Bis übermorgen«, und ging.
     
    Die darauffolgende Woche verging schnell. Ich verbrachte meine Zeit mit Dösen und Fernsehen, Freunde und Kollegen besuchten mich, dazwischen versuchte ich zu lesen. ›Dieses Buch wird Ihr Leben retten‹ von A.   M.   Homes lag sinnigerweise auf meinem Nachttisch, aber es gelang mir nicht, mich zu konzentrieren. Meine Gedanken stoben auseinander, wie in die Luft geworfene Vögel, schweiften immer wieder ab, zogen Kreise und kamen doch zu keinem Ergebnis. Schon lange war ich an einem Punkt in meinem Leben angelangt, der mich ängstigte. Jahrelang hatte ich mich durch ein unstetes Meer von Liebesgeschichten und Affären treiben lassen, hatte nur wenig ausgelassen, aber jetzt zog es mich an den Strand. Ich wollte abendseine Tür klappen und jemanden rufen hören: »Ich bin’s!« Ich wollte mich vor dem Einschlafen an jemanden schmiegen und kleine Unsinnigkeiten flüstern, und ich wollte morgens die Augen aufschlagen und in der Wohnung duftete es schon nach Kaffee. Ich wollte all diese Kleinigkeiten, die einem sagen: Ich bin nicht allein. Da ist noch ein anderer. Der mich ins Herz trifft. Den ich nie wieder hergeben will. Dessen Name mich zum Strahlen bringt, der alles Gute in mir hervorzuholen vermag und meine wollüstigen Fantasien erfüllt. Der, von dem ich mir Kinder wünsche, der mein Bedürfnis nach geistiger Symbiose teilt und bei dem ich so sein kann, wie ich bin, und für den gerade
das
das Größte ist. Der deshalb und in aller Selbstverständlichkeit so empfindet wie ich: Liebe.
     
    Ich seufzte bei diesen Gedanken, starrte Löcher in die Luft, umarmte mein Kopfkissen und weinte. Ich fühlte mich verlassen und leer, ungewollt und ausgeschlossen von allem, was ich mir wünschte. Ich lag im Krankenhaus und die Botschaft war klar: Es gab niemand
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