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Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie

Titel: Liebesleben/Mann und Frau/Späte Familie
Autoren: Zeruya Shalev
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Laden nie betreten, alles ist, wie es war, nichts ist passiert, aber tief in meinen Händen spürte ich eine Veränderung, als hätte man mir in einer schmerzhaften Operation die Reihenfolge der Finger vertauscht.
    Beschämt zog ich mich zurück, das Kleid winkte mir nach wie ein großes rotes Tuch, herausfordernd und beschämend, ich lief rückwärts, hatte Angst, meinen Rücken den bohrenden Blicken der beiden Frauen auszusetzen. Mir kam es vor, als hebe die Puppe grüßend die Hand, ich zwinkerte ihr entschuldigend zu und stieß plötzlich mit einer Gruppe von Leuten zusammen, die dicht nebeneinanderher liefen, so dicht, daß ich unmöglich hindurchschlüpfen konnte, mir blieb gar nichts anderes übrig, als mich mitziehen zu lassen, in der Hoffnung, daß sich irgendwann eine Öffnung fand, und mit der Zeit wurde das fast angenehm, dieses gemeinsame Laufen. Ich stellte fest, daß sie braun angezogen waren, und an ihren Kleidungsstücken hingen große Blätter in den Farben des Herbstes, die Blätter bewegten sich bei jedem ihrer Schritte, bis sie plötzlich stehenblieben, mitten auf dem breiten Gehweg, und die Hände zum Himmel streckten, als wären sie Bäume, und ich fragte eine Frau neben mir, was ist das, was machen Sie, und sie sagte, wir feiern den Herbst, und alle murmelten leise Segenssprüche und schlugen Trommeln, und dann war es plötzlich still, sie nahmen die Blätter von ihren Kleidern und zertraten sie unter wildem Stampfen, mit heftigen Tritten, und ich fragte die Frau, was soll das, und sie sagte, wir feiern die Befreiung von den Blättern, wir werfen allen Ballast ab und bleiben in unserer Reinheit zurück, genau wie die Bäume, nur Stamm, Äste und Zweige. Ihr leuchtender Blick hypnotisierte mich, ihre Haare waren ganz weiß, doch ihr Gesicht war jung, begeistert, und dann fing sie an, mit den anderen eine bittersüße Melodie zu summen, da drängte ich mich aus dem Kreis, mischte mich unter die normalen Menschen, von denen manche spöttisch lachten, als wollten sie sagen, haut ab, ihr Spinner, geht in eine Anstalt, während andere ihnen strafende Blicke zuwarfen, und ich wunderte mich, immer hatte ich geglaubt, die Bäume würden sich nur mit großem Bedauern von ihren Blättern trennen, so wie Eltern von ihren Kindern, aber vielleicht trennten sich manche Eltern ja auch freudig von ihren Kindern, vielleicht war jede Trennung auch eine Befreiung, eine Läuterung, ein Abnehmen der Körperlichkeit, und es gefiel mir, daß es weniger Traurigkeit in der Welt gab, als ich angenommen hatte. Bestärkt durch ihre frohe Botschaft, wollte ich weitergehen, doch da wurde mir klar, daß ich mich zu früh gefreut hatte, es war nicht so, daß es weniger Traurigkeit gab, das Maß an Traurigkeit änderte sich nicht, sie hatten nur die Anlässe vertauscht, bei ihnen war es erfreulich, wenn man sich trennte, und traurig, wenn man sich traf, wie bei diesem alten Rätsel mit dem Hinauf- oder Hinuntersteigen, das mich jedesmal aufs neue durcheinanderbrachte, und ich hoffte, sie später einmal wiederzusehen, damit ich sie fragen konnte, welche Zeremonie sie im Frühjahr machten, ob sie trauerten, wenn alles anfing zu blühen, aber jetzt wollte ich mich nicht länger aufhalten, weil ich Sprechstunde in der Universität hatte und es mir äußerst unangenehm war, zu spät zu kommen, und als ich auf die Uhr sah, stellte ich fest, daß meine Sprechstunde bereits vor einer Viertelstunde angefangen hatte.
    Erschrocken betrat ich ein Café an der Straßenecke und rief im Büro der wissenschaftlichen Assistenten an, zu meinem Glück war Neta am Apparat, mit ihrer näselnden Stimme, nie hätte ich erwartet, daß ich mich einmal so freuen könnte, sie zu hören, und ich sagte, tu mir einen Gefallen, Neta, tausche heute mit mir den Dienst, ich revanchiere mich bestimmt, und sie näselte, genau das mache ich gerade, und ich fragte, sind viele Studenten gekommen, und sie sagte, ich habe mich schon mit zweien herumgeschlagen, und draußen warten noch ein paar, sie brauchen Hilfe bei der Studienplanung, wo bist du überhaupt, und ich sagte, ich bin unterwegs ausgestiegen, weil ich ein Kleid anprobieren wollte, und habe nicht auf die Uhr geachtet. Herzlichen Glückwunsch, sagte sie, und ich sagte, nein, am Schluß habe ich es nicht gekauft, es war zu teuer, und Neta lachte, ich sah vor mir, wie sie ihre dichten braunen Locken schüttelte, die immer in Bewegung waren, wie vielbeinige Insekten, und ich bedankte mich bei ihr, weil sie
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