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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition)
Autoren: Karl Ove Knausgård
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Tiefgarage, parkten und spazierten ein wenig durch die Stadt. Geir wollte in Plattengeschäfte, um nach Bluesplatten zu suchen, seiner neuen Obsession, und anschließend gingen wir in die beiden großen Buchhandlungen, ehe wir uns nach einem Lokal umsahen, in dem wir essen konnten. Wir entschieden uns für das Peppes neben der Bibliothek. Geir wirkte unbeeindruckt von dem, was in der letzten Woche in seinem Leben passiert war, und während wir dort saßen und aßen und uns unterhielten, überlegte ich, ob es daran lag, dass er tatsächlich unbeeindruckt war, und wenn ja, warum, oder daran, dass es ihm wichtig war, seine Gefühle zu verbergen. In meiner ersten Zeit in Stockholm hatte er einige Erzählungen geschrieben, die vor allem von großer Distanz zu den beschriebenen Ereignissen geprägt waren, und ich erinnerte mich, dass ich zu ihm sagte, es komme einem
beim Lesen vor, als solle ein riesiges gesunkenes Schiff geborgen werden, das tief unten in seinem Bewusstsein lag. Er scherte sich nicht darum, es war ihm nicht wichtig, was natürlich nicht hieß, dass es ohne Bedeutung war. Er erkannte es nicht an und lebte mit dieser Haltung als Ausgangspunkt. Aber welchen Status hatte es dann? War es verdrängt? Wegrationalisiert? Oder war es, wie er selber sagte, yesterday’s news? Seine Distanz zur Familie hing damit zusammen: Alles Vergangene hielt er eine Armlänge von sich weg. Ihr Leben, das seinen Worten zufolge aus einer einförmigen Abfolge alltäglicher Ereignisse bestand, und dessen Höhepunkte die Fahrten zum Einkaufszentrum vor der Stadt und der Sonntagnachmittag in irgendeiner Raststätte bildeten, und in dem die Gesprächsthemen nur selten über das Essen und das Wetter hinausgingen, trieb ihn auch deshalb vor Rastlosigkeit in den Wahnsinn, nahm ich an, weil für alles, womit er selbst sich beschäftigte, darin kein Platz war. Sie interessierten sich nicht im Geringsten dafür, womit er sich beschäftigte, so wie er sich nicht dafür interessierte, womit sie sich beschäftigten. Wenn es funktionieren sollte, musste er ihnen entgegenkommen, aber das wollte er nicht. Gleichzeitig pries er häufig ihre Wärme, die Fürsorge für die nahen Dinge, die Umarmungen und Liebkosungen, tat dies jedoch fast immer, nachdem er darüber gesprochen hatte, was er dort alles nicht ertrug, also als eine Art Buße und nicht ohne Spitzen gegen mich, denn während ich all das hatte, was er in seiner Familie vermisste, intellektuelle Neugier und fortlaufende Gespräche, von ihm Mittelschichtwerte genannt, gab es bei uns nicht jene Wärme und Nähe, die er als ein typisches Merkmal der Arbeiterklasse betrachtete, aus der er stammte, genau wie den Wunsch, es gemütlich zu haben, der in Akademikerkreisen so verachtet wurde, da der Geschmack, in dem er zum Ausdruck kam, als einfach, ja simpel eingestuft wurde. Geir verachtete die Mittelschicht und
die Werte der Mittelschicht, wusste aber nur zu gut, dass er sie selbst durch seine Universitätskarriere und alles, was dazu gehörte, verinnerlicht hatte, und irgendwo dort hing er fest wie eine Fliege im Spinnennetz.
    Er freute sich, mich zu sehen, das merkte ich, und vielleicht war er auch erleichtert darüber, dass seine Mutter tot war, weniger seinet- als ihretwegen. Zu den ersten Dingen, die er sagte, gehörte, welche Rolle ihre Angst jetzt spielte. Keine Rolle … Aber das war es dann auch, wir waren genauso in anderen Menschen gefangen wie in uns selbst, kamen da nicht heraus, konnten uns unmöglich befreien, man bekam das Leben, das man bekam.
    Wir sprachen über Kristiansand. Für ihn war es bloß eine Stadt, für mich war es ein Ort, an dem ich mich nicht aufhalten konnte, ohne dass die alten Gefühle in mir hochkamen. In erster Linie Hass, aber auch meine eigene Unzulänglichkeit, dass ich keiner der Forderungen, die ich hier spürte, gerecht werden konnte. Geir meinte, es gehe um den Ort, an dem man aufgewachsen sei, diese Zeit färbe ab, ich war anderer Meinung, es bestand ein großer Unterschied zwischen Arendal und Kristiansand, die Mentalität war unterschiedlich. Auch Städte haben Charakter, Psychologie, Geist, Seele, wie auch immer man es nennen will, etwas, das man sofort spürt, wenn man ankommt, und das ihre Einwohner prägt. Kristansand war eine Handelsstadt, sie hatte eine Krämerseele. Bergen hatte auch eine Krämerseele, aber darüber hinaus Weite und Selbstironie, will sagen, die Welt außerhalb war in ihr eingeschlossen, diese Stadt wusste sehr wohl, dass sie
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