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Liebe und Verrat - 2

Liebe und Verrat - 2

Titel: Liebe und Verrat - 2
Autoren: Michelle Zink
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merkwürdig geformten Kopf und ein Antlitz, das sich ständig zu verändern scheint. Wie angewurzelt stehe ich am Ufer. Ich bin nicht in der Lage, mich zu bewegen. Namenloser Schrecken hat mich gepackt.
    »Ihr weist mich immer noch zurück, Mistress?« Die Stimme, die ich einstmals aus Sonias Mund vernommen habe, als sie versuchte, mit meinem toten Vater Kontakt aufzunehmen, ist unverkennbar. Beängstigend. Unnatürlich. Sie gehört nicht in diese Welt. In keine Welt. »Ihr könnt mir nicht entkommen. Es gibt kein Versteck. Keine Zuflucht. Keinen Frieden«, sagt Samael.
    Er erhebt sich aus der Hocke, streckt sich in die Höhe, zweimal so groß wie ein sterblicher Mann. Sein Körper ist mächtig. Ich habe das Gefühl, dass er mit einem Sprung über den Fluss setzen und mir an die Kehle gehen könnte, wenn er wollte. Eine Bewegung hinter ihm erregt meine Aufmerksamkeit, und ich erhasche einen flüchtigen Blick auf die glänzenden, ebenholzfarbenen Flügel, die zusammengefaltet auf seinem Rücken liegen.
    Und jetzt schiebt sich ein schier übermächtiges Verlangen über meine Furcht. Eine Sehnsucht, die mich wünschen lässt, den Fluss zu überqueren und mich in diese weichen, fedrigen Flügel einzuhüllen. Der Herzschlag ist zunächst ganz leise, ganz schwach. Dann wird er stärker. Poch-poch. Poch-poch. Poch-poch . Ich erinnere mich an ihn. Ich habe ihn schon einmal gehört, als ich mit den Schwingen reiste und Samael begegnete. Und wieder einmal erfüllt es mich mit Entsetzen, dass mein Herz im Rhythmus des seinen schlägt.
    Ich trete einen Schritt zurück. Mein ganzes Sein befiehlt mir zu fliehen. Aber ich wage es nicht, mich von ihm abzuwenden. Stattdessen gehe ich ein paar Meter rückwärts, den Blick fest auf die wandelbare Maske seines Gesichts gerichtet. Manchmal ist er so schön wie der schönste Mann. Und dann verändert er sich und wird zu der Kreatur, die er ist.
    Samael. Das Untier.
    »Öffnet das Tor, Mistress, wie es Eure Pflicht ist und Euer Wunsch. Eurer Weigerung folgen unweigerlich Leid und Qual.« Die kehlige Stimme klingt nicht vom jenseitigen Ufer, sondern ist in meinem Gedanken, als ob seine Worte die meinen wären.
    Ich schüttele den Kopf. Ich muss alle Kraft aufwenden, die ich in mir habe, um ihm den Rücken zu kehren. Aber ich tue es. Ich drehe mich um und renne los, breche durch die Baumlinie am Flussufer, obwohl ich keine Ahnung habe, wohin ich mich wenden soll. Sein Gelächter schießt durch die Bäume wie ein lebendiges Wesen. Als ob es mich jagen würde.
    Ich will es nicht hören. Zweige und Äste schlagen gegen meinen Körper und mein Gesicht. Ich renne, will aus diesem Traum aufwachen, will diese Reise beenden. Aber mir bleibt keine Zeit zu überlegen, wie ich das anstellen soll. Mein Fuß bleibt an einer Wurzel hängen und ich falle hin, schlage mit voller Wucht auf, sodass mir schwarz vor Augen wird. Ich stoße mich mit beiden Händen vom Boden ab, versuche, wieder auf die Füße zu kommen, will weiterrennen. Aber da fühle ich, wie mich eine Hand an der Schulter packt.
    Und eine Stimme zischt: »Öffnet das Tor.«
    Ich sitze aufrecht im Bett. Der Schweiß hat meine Nackenhaare durchfeuchtet und ich unterdrücke einen Schrei.
    Mein Atem kommt stoßweise; mein Herz hämmert gegen meine Brust, als würde es immer noch mit seinem im Einklang schlagen. Selbst das Licht, das durch einen Spalt zwischen den Vorhängen fällt, kann den Schrecken nicht besänftigen, den mein Traum hinterlassen hat. Ich warte ein paar Minuten, rede mir ein, dass es wahrhaftig nur ein Traum war. Wieder und wieder sage ich mir: Es war nur ein Traum. Bis ich es glaube.
    Dann sehe ich das Blut auf meinem Kissen.
    Meine Hand fährt zu meinem Gesicht. Ich berühre mit den Fingerspitzen meine Wange. Als ich sie zurückziehe, weiß ich natürlich schon, was das bedeutet: Der rote Fleck spricht nur die Wahrheit.
    Ich stehe auf und gehe zu der Frisierkommode, auf der unzählige Tiegel und Töpfchen mit Cremes und Puder stehen. Ich erkenne das Mädchen im Spiegel kaum. Ihr Haar ist zerzaust und ihre Augen erzählen von etwas Dunklem, Beängstigendem.
    Die Schramme auf meiner Wange ist nicht tief, aber sie spricht Bände. Ich starre auf das Blut, das mein Gesicht befleckt, und denke an die Zweige und Äste, die mir das Antlitz zerkratzten, als ich vor Samael floh.
    Ich will leugnen, dass ich ungewollt – und allein – mit den Schwingen reiste. Sonia und ich haben beschlossen, dass dergleichen nicht klug wäre, trotz
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