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Liebe Ist Nichts Fuer Feiglinge

Liebe Ist Nichts Fuer Feiglinge

Titel: Liebe Ist Nichts Fuer Feiglinge
Autoren: Kristine Gasbarre
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ganz deutlich, und ich bin schlagartig hellwach. Ich trete ans Bett und streichele ihm über den Kopf. Er muss heute sterben. Im Moment sind wir die Einzigen, die diese Neuigkeit miteinander teilen. Ich möchte am liebsten zu ihm ins Bett krabbeln und heulen. Im schwachen Licht der Nachttischlampe präge ich mir seine Gesichtszüge ein – das Grübchen auf seinem Augenlid, die Poren auf seiner Nase, den präzisen Amorbogen seiner Oberlippe. Als er sich regt, flüstere ich: »Grandpa.«
    »Ja?« Er ist so schwach, dass er das Wort kaum aussprechen kann.
    »Ich muss dir etwas sagen. Aber leg dich zuerst hin, okay. So. Gut gemacht«, ermutige ich ihn. »So. Okay. Jetzt hör zu.«
    Mein Mund befindet sich ganz nahe an seinem Ohr. »Ich liebe dich, Grandpa.«
    Er öffnet die Augen. »Ich liebe dich auch.«
    Ich habe einen Kloß im Hals. »Ich weiß.«
    »Mann, und wie ich dich liebe.«
    Er schließt die Augen wieder. Ich lege meinen Kopf auf sein Kissen, so dass sich meine Wange ganz leicht an seine drückt. Beinahe kann ich spüren, wie weh es ihm tut, mir solchen Schmerz bereiten zu müssen. Ich blicke zu den bunten Schatten an der Decke, und die Tränen strömen mir übers Gesicht. Nichts in meinem Leben, kein Kampf, kein Sieg, kein Herzschmerz, ist so bedeutungsvoll wie dieser Augenblick. Die Person, die mir am meisten auf der ganzen Welt bedeutet, erwidert meine Liebe. Weniger werde ich nie wieder von einem Mann akzeptieren.
    Am Morgen kommt gemeinsam mit den Krankenschwestern der Pfarrer unserer Gemeinde in Grandpas Zimmer, und sie rufen uns zu einem Gebet. In unseren Trainingsanzügen stehen wir um das Bett herum, entschlossen, bis zum Ende durchzuhalten. Die Krankenschwestern haben Großvater gewaschen, und er duftet nach warmer Seife, Aloe und frischer Bettwäsche. Grandma und Ruth, die Oberschwester und zugleich eine alte Freundin unserer Familie, setzen sich an Grandpas Seite. Als wir alle unser Vaterunser beten, findet Großvater die Kraft, Grandmas Hände zu ergreifen und die Handflächen zu küssen. Nach dem Segen des Pfarrers gehen die Schwestern aus dem Zimmer, schütteln dabei jedem von uns die Hand und blicken uns tief in die Augen. Alle wissen, dass er heute sterben wird. Uns bleiben nur noch wenige Stunden mit Grandpa.
    Es wird kein Poker mehr gespielt. Kaum jemand lacht, es herrscht keine Unruhe im Haus. Grandma scheint die Unvermeidlichkeit dieser letzten Minuten endlich verstanden zu haben, und sie weicht nicht von Grandpas Seite. Sie bittet um Musik, und ich bringe die kleine Stereoanlage herein und lege die einzige CD ein, die meine Großeltern besitzen. Es ist die Live-Aufnahme einer Jazzband, zu deren Konzert sie letztes Jahr gefahren sind, bevor sie wussten, dass Großvater krank war. »Such etwas, das er wiedererkennt, Kris«, sagt Grandma, und ein Song ertönt, der mich an Sinatra erinnert, mit schmachtenden Violinen und Bläsern. Ein Liebeslied.
    Grandma steht am Bett und blickt Grandpa an, und auf einmal ist er ganz wach und schaut sie ebenfalls an. Mitten im Lied, als das Orchester zu einem Crescendo anschwillt, sagt Grandpa: »Küss mich, Gloria.« Grandma beugt sich über ihn und küsst ihn lange und zärtlich auf den Mund. Sie weinen beide. Als Grandma sich schließlich von ihm löst, bittet Grandpa: »Noch einmal.« Und sie tut es. Ich habe noch nie erlebt, wie sich meine Großeltern küssen.
    Als der Song zu Ende ist, lasse ich ihn noch einmal spielen. Grandma sitzt auf der Stuhlkante und streichelt mit dem Daumen leicht über Grandpas Hand. Ich habe sie noch nie so gefasst gesehen. »Frieden, George«, sagt sie, und aus Grandpas Augenwinkeln laufen Tränen.
    Nach dem Abendessen steckt Ruth den Kopf zur Tür herein. Lächelnd geht sie zu Grandma, die immer noch an Grandpas Bett sitzt. »Wir bleiben jetzt eine Zeitlang mit ihm allein, okay, Gloria?«
    »Ja, okay.«
    Ruth bittet uns sanft, sie eine Weile mit Grandpa allein zu lassen. Meine Mom beugt sich zu mir und flüstert: »Manchmal wollen Sterbende in Gegenwart ihrer Liebsten nicht gehen. Ich wette, Ruth weiß, dass es Zeit ist.«
    Ich nicke langsam. Ja, vielleicht ist es so.
    Eine halbe Stunde dringt kein Laut aus dem Zimmer, dann ruft Ruth meinen Dad und seine Geschwister herein. Wir hören ein lautes Keuchen, kurz darauf kommt Ruth in die Küche. Sie hält den Kopf gesenkt. »Ich glaube, er ist gegangen.«
    Langsam stehen wir auf und gehen ins Hinterzimmer. Mein Dad, seine Brüder und Grandma schluchzen leise. Meine Mom nimmt
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