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Liebe Ist Nichts Fuer Feiglinge

Liebe Ist Nichts Fuer Feiglinge

Titel: Liebe Ist Nichts Fuer Feiglinge
Autoren: Kristine Gasbarre
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du okay?«
    Sie nickt hastig. »Ja«, sagt sie schniefend. Sie merkt nicht, dass ich nach ihrer Hand greife, also folge ich ihr einfach ins Gästezimmer, wo sie Grandpas Krankenhausbett aufgestellt haben. Dabei mustere ich ihre tadellos frisierten braunen Locken und ihren schmächtigen Körper. Noch zeigt sie keine Anzeichen von Demenz, aber ich suche doch nach Veränderungen in ihrer äußeren Erscheinung.
    Grandma und Grandpa haben ihrer Familie zwei Wochen zuvor, kurz bevor Großvater gar nicht mehr aufstehen konnte, mitgeteilt, dass bei Grandma zwei Jahre zuvor das Anfangsstadium einer Demenz festgestellt wurde. Letzten Monat, als die Ärzte Grandpas Lungenkrebs für unheilbar erklärt haben, haben sie beschlossen, uns alle einzuweihen. Sie hatten einen feierlichen Pakt geschlossen, die Informationen über ihre jeweiligen Krankheiten so lange wie möglich für sich zu behalten. Leiden ist für meine Großeltern kein edler Zustand. Die Fähigkeit hingegen, ein Versprechen zu halten, das man einer anderen Person gegeben hat, ist etwas Edles. Ob ich wohl jemals jemandem so unerschütterliches Vertrauen entgegenbringen werde?
    Meine Eltern, Tanten und Onkel stehen in der Tür, als Großmutter mich zu Großvater führt. »George?«, sagt sie. »Krissy ist hier.«
    Er rührt sich nicht.
    »Liebling«, gurrt sie, und ich höre zum ersten Mal, dass sie ihn anders anredet als mit seinem Vornamen; so habe ich sie noch nie erlebt. »Setz dich, Kris.«
    Ich setze mich vorsichtig auf den Schreibtischsessel, der neben Großvaters Bett steht. Unter dem Stuhl befindet sich ein Hocker. Er ist mit einem Lilienstoff bezogen, als müsse er am Thron einer Königin stehen. Ich nehme an, er ist für Grandma, bin aber nicht vertraut genug mit der Situation, um meine Füße daraufzustellen. Ich muss diese ganze neue Realität, die die gesamte restliche Familie bereits kennt, erst noch begreifen.
    »Liebling, hier steht deine Enkelin. Sie ist gerade aus Italien gekommen und möchte hallo sagen.« Sie drängt mich. »Na los.«
    Ich suche krampfhaft nach Worten. »Hi, Grandpa«, stoße ich hervor. Sein gesamter Körper steckt von den Rippen abwärts unter der Decke. Ich streichele seine knochige Hand. Mein Gott, wohin ist er verschwunden? Er hat zwanzig Pfund abgenommen und wirkt dreißig Jahre älter, seit wir uns drei Wochen zuvor an Silvester voneinander verabschiedet haben. Tränen laufen mir über die Wangen und tropfen auf meine Hand. Am liebsten würde ich heulend zusammenbrechen.
    »Wir lassen euch zwei alleine.« Grandma und die anderen, die immer noch an der Tür stehen, ziehen sich zurück.
    Ich betrachte Grandpa, seine eingefallenen Wangen und seine graue Haut. Er liegt ganz still da, verletzlich. So habe ich ihn noch nie gesehen. Plötzlich macht er die Augen weit auf und stößt einen erleichterten Seufzer aus. Da bist du ja! , scheint er zu sagen.
    »Hallo«, flüstere ich liebevoll, als sei er ein Baby. Ich rutsche auf die Stuhlkante, und er lächelt. »Ich bin hier.« Er seufzt wieder, dann lächelt er und lässt den Kopf langsam zurück in die Kissen sinken. Ich habe einen Kloß im Hals. Ich öffne die Kette mit der St.-Christopherus-Münze, die ich immer auf Reisen trage, und hänge sie an seinen Bettpfosten. Die Reise, auf die er sich begibt, ist viel anstrengender als meine.
    Aus dem Wohnzimmer ertönt Lachen, aus dem Großmutters mädchenhaftes Kichern deutlich herauszuhören ist. Unsere Familie hat aus der Krankenwache eine Cocktailparty gemacht. Ich verstehe gut, warum das so ist. Grandpa möchte, dass wir uns um Grandma kümmern und ihr dabei helfen, einfach weiterzuleben. Die beiden haben alle nötigen Vorkehrungen getroffen: Sie haben ihr Testament unterschrieben, haben dieses Haus hier gekauft, einen Bungalow mit einer Sonnenveranda und Notfallklingeln, damit Grandma, sollte sie stürzen, im Altersheim gegenüber Hilfe holen kann.
    Mit seinem Unternehmen hat mein Großvater unseren kleinen Ort geprägt. Wenn er einmal tot ist, wird meine Großmutter den Gedanken an ihren Mann nie mehr entkommen. Mein Großvater hat einen Flügel der Highschool gebaut, auf der der letzte meiner Cousins in ein paar Monaten seinen Abschluss machen wird. Auf ihrem Weg in den Ort kommt Grandma jeden Tag an diesem Gebäude vorbei. Für gewöhnlich ist Grandpa mit ihr in die Kirche gegangen; ich frage mich, wie sie die Messe ohne ihn ertragen wird. Unsere Fabrik steht stolz mitten in einem Industriepark. Das Schild GASBARRE PRODUCTS,
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