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Lichtspur

Lichtspur

Titel: Lichtspur
Autoren: Chris Moriarty
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und keine Träume haben.
     
    HERODOT

    B is am Abend vor ihrer Abreise versuchte sie, Bella nicht wiederzusehen – und dann ließen die Wachleute sie nicht mehr zu ihr.
    Es waren Männer von der planetaren Miliz, was immer das jetzt auch bedeutete, und sie nahmen von jemandem in UN-Uniform keine Befehle an.
    »Sie haben keine Befugnis mehr«, sagte ein Wachtmeister, der Li mit Verspätung als eine von Ramirez’ Mitentführern erkannte.
    Er zog die Schultern ein, als rechnete er mit einem Angriff von ihr, und schob die Füße noch weiter in die Null- g -Schlaufen.
    Hinter ihm konnte sie den Korridor sehen, der zu Haas’ Büro führte. Alles war abgeschaltet, und die Lebenserhaltungssysteme liefen mit der minimalen Energie, die nötig war, damit sie atembare Luft produzierten und das Wasser lief.
    Eine Gruppe von Bergleuten schob sich an Li vorbei. Sie rochen, als kämen sie gerade aus der Grube, und zogen sich an den Führungsseilen entlang zu dem Büro.
    »Und die da sind befugt?«, fragte Li ungläubig.
    Der Wachtmeister zuckte die Achseln. »Sie kommen regelmäßig, Cartwright hat es erlaubt. Was wollen Sie von mir? Ohne ausdrückliche Genehmigung kommt kein UN-Personal hier vorbei. Wurde von ganz oben in Helena angeordnet. Und höher geht’s nicht.«
    »Na gut«, sagte Li. »Rufen Sie Cartwright an.«

     
    Als sie endlich in Haas’ Büro gelassen wurde, erkannte sie es kaum wieder.
    Nur der riesige glühende Schreibtisch und das Sternenlicht, das durch die Sichtluke im Boden hereindrang, waren unverändert. Der Rest des Büros war ein schattiges Chaos aus Amuletten, Kerzen, Statuen und Gebetstafeln geworden. In der Schwerelosigkeit brannten die Flammen unnatürlich rund und schwebten wie Irrlichter über den Kerzendochten. Rosenkränze schlingerten wie Seegras in unsichtbaren Luftströmungen. Wachstropfen von den Kerzen schwebten gefährlich heiß durch den Raum und sammelten sich auf jeder Oberfläche.
    Und dann all die Leute. Die Gläubigen, die Zweifler und die bloß Neugierigen, die sich einer nach dem anderen durch den Raum schoben. Sie flüsterten. Sie machten große Augen. Sie beteten. Sie stellten Fragen.
    Vor allem aber baten sie um Stimmen. Die Stimmen verlorener Freunde. Stimmen geliebter Menschen. Stimmen, die Bella ihnen verschaffte.
    Sie schwebte über dem Schreibtisch, genau dort, wo Li sie zuletzt gesehen hatte, eine Sibylle des Raumzeitalters in der Schwerelosigkeit. Sie sprach mit hundert Stimmen. Sie sprach die Namen der Toten aus, rettete ihre Worte aus der Dunkelheit und drängte, wenn auch nur für einen Moment, die Schatten des Verlustes, des Zweifels und des Todes zurück.
    Li stand in einer dunklen Ecke und sah zu. Die Pilger mussten Bella ernähren, wurde ihr klar. Sie mussten sie kleiden, waschen. Jemand musste den kohlschwarzen Halo ihres Haars bürsten. Kümmerte sie all das noch? Bemerkte sie diese Menschen überhaupt? In welches tödliche Zwielicht war sie eingetreten?
    Li schaute so lang zu, dass sie den Rhythmus der Luftströmungen kennenlernte, die durch die Kammer strichen,
die Art, wie sie Bellas Hemdsaum umspielten und ihr Haar in eine Medusenkrone verwandelten. Sie sah, wie unter ihren Füßen die Sonne unterging und der Raum in das stumpfe Grau und Blau des Sternenlichts getaucht wurde.
    Sie nahm an, dass Bella schlief, aber bei Sonnenaufgang schlug sie die Augen auf und sah Li direkt an, als habe sie sich auf das Geräusch ihres Atems eingestimmt. »Bist du es?«, fragte Li.
    »Ich bin es immer.«
    Die Luft knisterte vor statischer Elektrizität; Lis Haare sträubten sich. Bellas Hemd war bis über die Knie hochgerutscht. Li war nicht wohl bei dem Gedanken, dass die Bergleute durch den Raum flanierten und sie anstarrten und dass Bella zu tief in den Abgrund des Weltgeistes abgetaucht war, um es zu bemerken. Sie trat vor, packte den dünnen Stoff und zog ihn bis zu Bellas entblößten Knöcheln herunter.
    Bella lächelte. Als ob sie wusste, was Li dachte. Als ob sie über sie lachte.
    »Bist du glücklich?«, fragte Li.
    »Es tut mir leid um deine Mutter. Und um Cohen.«
    Li schluckte. »Geht es ihnen gut?«
    »Mirce schon. Aber mit der KI ist es … etwas komplizierter. «
    »Ist er …?«
    »Wir sind alle am Leben, Catherine. Kannst du uns nicht fühlen? Wir fühlen dich. Jeden Teil von dir, jede Stimme, jedes Netzwerk, ganz gleich, wo auf der Station du bist. Wir lieben dich.«
    Li schloss die Augen und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.
    »Katie«, sagte Bella.
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