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Lichtspur

Lichtspur

Titel: Lichtspur
Autoren: Chris Moriarty
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Moment, als Li sich aufsetzte, sprangen die Notsysteme an, und sie spürte, wie viertausend Mann Dauerbesatzung der Station schlingernd und ruckelnd abgebremst wurden und ein heilloses Durcheinander entstand. Ihre Arme und Beine fühlten sich auf einmal ganz leicht an, und ihr Magen bäumte sich auf, als die Anziehungskräfte schwankten. Das Licht wurde gedämpft, und die Belüftungsrohre über ihr verstummten. Die Systeme stabilisierten sich wieder, aber die Luftströmung war jetzt schwächer, die Deckenleuchten düsterer. Jemand hatte die mächtigen Stirling-Rotationsturbinen tief im Innern der Station abgeschaltet; die Notstromaggregate liefen.
    Die Schwerkraft war noch nicht ganz wiederhergestellt, und die Gegenstände würden erst in ein paar Minuten wieder ihr volles Gewicht haben. Li loggte sich ins Stationsnetz ein und versuchte herauszufinden, was vor sich ging; aber das Netz war abgeschaltet oder sie war ausgesperrt. Sie stand vorsichtig auf und arbeitete sich bis in die Zentrale des Hauptquartiers vor, wo der diensthabende Offizier hinter dem Schalter schwebte, sichtlich beunruhigt von der plötzlichen Umkehr der Gravitationsgesetze, wie sie die Stationsbesatzung kannte.
    »Was ist los?«, fragte Li.
    Er zuckte bei ihrem Anblick so heftig zusammen, dass er vom Schalter abprallte und verzweifelt nach Halt suchte, um nicht seitlich wegzuschweben. Erst in diesem Moment schaute Li an sich hinunter und stellte fest, dass sie sich seit dem Eintreffen auf der Station nicht gewaschen oder umgezogen hatte.
    »Meine Güte. Entschuldigung.« Sie kramte durch die Spinde im hinteren Teil der Zentrale, bis sie ein Kleidungsstück gefunden hatte, das klein genug war. In der Zwischenzeit traf weiteres Personal im Hauptquartier ein,
und alle versuchten herauszufinden, wer die künstliche Schwerkraft abgeschaltet hatte und was man dagegen unternehmen sollte.
    Erst als der Chefingenieur anrief und meldete, dass er Haas nicht finden konnte, fügten sich für Li die Puzzlestücke zusammen.
     
    Sie platzte im selben Moment in Haas’ Büro, als der Präzessionsring zum Stillstand kam und die künstliche Schwerkraft komplett ausfiel. Es kam etwas überraschend, und Li segelte in Schräglage durch den Raum, kam erst zur Ruhe, als sie mit den Füßen über der sternenhellen Sichtluke im Boden schwebte.
    Sie sah Haas aus den Augenwinkeln. Er saß in dem Stuhl hinter dem großen Schreibtisch. Sein Gesicht sah friedlich aus, abgesehen von den fleckigen Blutergüssen, die sich unter seinen Augen ausbreiteten.
    Bella stand – oder besser schwebte – über ihm.
    Sie hing schwerelos über der wie von Wellen überströmten Platte des Kristallschreibtischs in der Luft. Ihr Haar erinnerte an das Gewimmel in einem Schlangennest. Sie hatte die Augen geschlossen, ihr Gesicht war blass, ihre Brust hob und senkte sich in einer finsteren Parodie auf den Atem einer Schlafenden. Sie lächelte auf eine Art, dass es Li kalt den Rücken runterlief.
    Etwas – vielleicht ihr eigenes Unterbewusstsein oder eins von Cohens Restsystemen – versuchte ihre Aufmerksamkeit zu erregen und veranlasste sie zu einer Netzwerksondierung.
    Aus Bella schossen gleißende, funkensprühende Fontänen hervor, zerteilten sich und drangen in die eingebetteten Systeme der Station ein, strömten zwischen der Station und dem Planeten hin und her, zwischen Oberfläche und Bergwerkschacht. Und diese immense Energie wurde durch
ein einziges dünnes Kabel geleitet, das Bellas Kopfbuchse mit den Hautkontakten an Haas’ Schläfen verband.
    Sie vernichtete ihn. Langsam, gnadenlos, unaufhaltsam. Sie hatte ihn irgendwie in einer Overlay-Schleife gefangen und schleuste die ganze gewaltige Energie des Weltgeistes durch ihn hindurch, tötete ihn dabei.
    Li sah Haas an, der über dem glühenden Schreibtisch zusammengesunken war. Sie sah in Bellas friedliches Gesicht, betrachtete ihr Haar, das ihren Kopf umschloss wie eine flammende Korona einen verfinsterten Stern.
    Sie kommt von den Bergen herunter, dachte sie. Singend. Mit Steinen in der Hand.
    Sie rief den Sicherheitsdienst an.
    »Ich bin in Haas’ Büro«, sagte sie. »Sie brauchen niemanden zu schicken. Hier ist alles in Ordnung.«

Slowtime
    ► (Und dort liegt) ein Berg mit Namen Atlas. Er ist schmal und abgerundet von allen Seiten und soll so hoch sein, dass man seinen Gipfel nicht sehen kann, da er stets, im Sommer und im Winter, mit Wolken bedeckt ist … Die Eingeborenen, so wird berichtet, sollen nichts Lebendiges essen
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