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Leute, die Liebe schockt

Titel: Leute, die Liebe schockt
Autoren: Alexa Hennig Lange
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Mama rechnet definitiv mit allem, nur nicht damit.
    Cotsch atmet tief ein. »Die dreht durch. Die ist doch nicht belastbar. Die kriegt gleich einen Herzinfarkt.«
    Leute, das könnte gut möglich sein. Ständig droht uns Mama mit einem ihrer berüchtigten »Herzinfarkte«. Wenn zu viel Stress im Haus ist, wird ihr linker Arm ganz taub. In dem Fall muss sie sich sofort im Wohnzimmer aufs Sofa legen und einer von uns soll den Notarzt rufen. Papa macht da schon lange nicht mehr mit, weil er Mamas »Neurosen nicht unterstützen« will. Also ruft Mama meistens selbst den Notarzt an und öffnet ihm auch gleich noch die Haustür. Wenn die Sanitäter sie dann gründlich und zum hundertsten Mal untersucht haben, ist sie wieder beruhigt, macht den Notärzten gut gelaunt einen Kaffee und stellt selbst gebackenen Apfelkuchen auf den Tisch.

    Jetzt ruft Mama von unten durchs Treppenhaus: »Elisabeth! Constanze!«
    Damit meint sie uns. Wenn Mama wüsste, was für schwerwiegende Neuigkeiten wir hier oben besprechen, würde sie nicht mehr so fröhlich nach uns rufen! Ich steige über die Klamotten meiner Schwester, die auf den Fliesen liegen, und schließe die Badezimmertür auf.
    Ich brülle runter: »Wir kommen gleich!«
    Und Mama: »Beeilt euch, meine Lieblinge! Essen ist fertig!«
    Meine Schwester wäscht sich noch schnell das Gesicht, und ich halte ihr fürsorglich die Haare am Hinterkopf zusammen, so als müsste sie sich übergeben. Vermutlich werden wir diese Situation in nächster Zeit noch öfter erleben. Ich meine, es ist ja kein Geheimnis, dass schwangeren Frauen oft schlecht ist und dass sie sich pausenlos übergeben müssen. Da ist es gut, wenn wir diese Prozedur schon mal üben. Ich fasse es immer noch nicht! Meine Schwester wird Mutti! Ausgerechnet meine Schwester! Sie ist so was von gar nicht mütterlich. Außerdem hatte sie vor, sich ihr Studium mit »Modeljobs« zu finanzieren.
    Ich frage: »Und wann willst du es Helmuth stecken?«
    Meine Schwester trocknet sich das Gesicht ab und guckt mit verheulten Augen in den Spiegel. Sie schluckt. »Heute Nachmittag, wenn er vom Tennistraining kommt.«
    Helmuth ist Tennistrainer. Er trainiert die ganze Nachbarschaft, und besonders die älteren Damen nehmen gerne bei ihm Unterricht, weil er so muskulöse Unterarme hat. Auch Cotsch findet: »Die sind krass sexy.« Wie sie meint. Für mich ist Helmuth nichts. Der macht
in seinem Leben nichts anderes, als sich seinen weißen Tennisdress anzuziehen, sich Schweißbänder umzulegen, mit dem Auto zum Tennisplatz zu fahren, da Trainingsstunden zu geben und wieder zurück nach Hause zu seiner Gala-Kollektion zu eiern. Dann hört er sich mit leuchtenden Augen seine Spice-Girls-CDs an und sitzt auf dem Sofa rum. Ich brauche eher Leute, die auf ein wildes und visionäres Leben stehen. Die immer nah am Abgrund laufen.
    Wobei mein Freund Arthur nun auch nicht gerade einer ist, der mutwillig am Abgrund entlangläuft und dauernd das Risiko sucht. Vielmehr wurde er quasi schon am Abgrund geboren und versucht seitdem, sich mit aller Kraft davon wegzubewegen, was ihm ziemlich gut gelingt. Nur manchmal, wenn er mit mir auf den Friedhof geht, um sich um die Gräber seiner Eltern zu kümmern, erwischt es ihn kalt von hinten. Seine Eltern sind vor fünf Jahren kurz hintereinander gestorben. Vor lauter Trauer schafft er es nicht, die verwelkten Blumen wegzuräumen, einen frischen Strauß in die Vase zu stellen und ein Gebet zu sprechen. Stattdessen sinkt er runter auf seine Knie, als hätte er plötzlich gar keine Kraft mehr, und fängt an zu weinen. Dazu schüttelt er den Kopf und rupft wütend mit den Händen die Grasbüschel um sich herum aus. Aber irgendwann, wenn die Vogelstimmen in den Zweigen lauter werden, fängt er sich wieder und bringt alles in Ordnung. Mit klarer Stimme erzählt er dann den Seelen seiner Eltern, was er gerade so macht, und erst beim Abschied kommen ihm noch mal richtig die Tränen. Einmal hat er sogar vor Wut gegen den Grabstein seines Vaters getreten und gebrüllt: »Warum habt ihr mich allein
gelassen?« Doch meistens beruhigt er sich relativ schnell wieder, besonders wenn ich ihn in den Arm nehme und sage: »Du bist nicht allein. Ich bin bei dir. Für immer und ewig.«
    Und weil Arthur eben längst den Abgrund hinuntergesehen hat, kennt er sich mit harten Schicksalsschlägen aus und ist für sein Alter ziemlich weise. So jemanden kann ich gut an meiner Seite haben, weil ich vor lauter Lebenshunger ununterbrochen am
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