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Letzter Mann im Turm - Roman

Letzter Mann im Turm - Roman

Titel: Letzter Mann im Turm - Roman
Autoren: C.H.Beck
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sich eines Tages zwischen seinen Unterlagen wie ein Stück Pear’s-Seife auflösen. Sein «Charakter» blieb verborgen.
    Mrs Puri (3 C), die allein als Freundin des Verwalters gelten konnte, beharrte darauf, dass er «Überzeugungen» hatte. «Wenn man sich lange genug mit ihm unterhält, stellt man fest, dass er China fürchtet, sich den Kopf über Jihadisten in den Vorortzügen zerbricht und einen Personalausweis befürwortet, um illegale Zuwanderer aus Bangladesch identifizieren zu können.» Aber die meisten hatten ihn nie eine Meinung äußern hören, es sei denn über Kricket. Einige glaubten, dass er stets auf der Hut war, weil er als junger Mann einen Fehltritt begangen hatte. Man munkelte, dass seine Frau eigentlich seine Cousine sei oder aus einer anderen Glaubensgemeinschaft stamme oder zwei Jahre älter sei als er oder gar, so die Boshaften, seine «Schwester». Sie hatten einen Sohn, Tinku, einen bekannten Carromspieler und Liebhaber weiterer Sitzsportarten, fett und weißhäutig, mit einem idiotischen Dauergrinsen auf dem Gesicht; ob er nun wirklich beschränkt war oder wie sein Vater seinen «Charakter» bloß verbarg, blieb unklar.
    Der Verwalter warf das Sandwichpapier in den Abfallkorb. Sein Atem war nun eine Symphonie aus roher Zwiebel und Kartoffelcurry; er machte sich wieder an seine Arbeit.
    Von einigen Rülpsern begleitet, berechnete er die jährlichen Betriebskosten, mit denen der Wachmann, die Putzfrau Mary, der Sieben-auf-einen-Streich-Kammerjäger, der die Wespen- und Honigbieneninvasionen bekämpfte, und die jährlichen Reparaturen an Dach und Haus bezahlt wurden. Seit mittlerweile zwei Jahren hielt Kothari die Wartungskosten bei monatlichen 16,68 Rupien pro Quadratmeter und Mieter, was umgerechnet eine (durchschnittliche) Jahreskostenrechnung von 158.165 Rupien je Mieter bedeutete, zahlbar an die Genossenschaft in ein oder zwei Beträgen (in diesem Fall wurden bei der zweiten Rate 17,76 Rupien pro Quadratmeter veranschlagt). Seine Fähigkeit, die Wartungskosten trotz des Inflationsdrucks in einer Stadt wie Mumbai konstant zu halten, wurde als sein größtesVerdienst angesehen, auch wenn einige tuschelten, dass er das nur fertigbrachte, indem er für die Instandhaltung überhaupt nichts tat.
    Er schaute auf und sah Mary, die
khachada-wali,
die mit ihrem Besen den Flur gefegt hatte, vor seinem Büro stehen.
    Mary war eine magere, stille Frau, kaum 1,50 Meter groß, mit enormen Vorderzähnen, die aus ihrem eingefallenen Gesicht hervorbrachen, weswegen die meisten Bewohner ein Gespräch mit ihr auf ein Minimum beschränkten.
    «Der Mann, der die ganzen Fragen gestellt hat, braucht aber lang, um sich zu entscheiden», sagte sie.
    Der Verwalter wandte sich wieder seinen Zahlen zu. Aber Mary blieb in der Tür stehen.
    «Ich finde, zwei Tage hintereinander die gleichen Fragen zu stellen, wirkt ziemlich neugierig.»
    Der Verwalter blickte auf.
    «Zwei Tage? Gestern war er doch gar nicht hier.»
    «Sie
waren gestern Morgen nicht hier», sagte die Putzfrau. «Aber er war hier.» Sie fing wieder an zu fegen.
    «Was wollte er gestern?»
    «Das Gleiche wie heute. Jede Menge Antworten auf jede Menge Fragen.»
    Mr Kotharis Knollennase zog sich zu einer dunklen Beere zusammen: Er runzelte die Stirn. Er stand von seinem Schreibtisch auf und trat zur Bürotür.
    «Wer außer dir hat ihn gestern noch gesehen?»
    Er hielt sich ein Taschentuch vor die Nase, bis Mary zu fegen aufhörte und er die Frage wiederholen konnte.
    Mrs Puri (3 B) ging mit ihrem achtzehnjährigen Sohn Ramu zur Vishram Society zurück. Ramu drehte sich immer wieder nach einem streunenden Hund um, der ihnen vom Obst-und-Gemüse-Markt gefolgt war.
    Mrs Puri, die wegen ihres Gewichts ein wenig hinkte, blieb stehen und nahm ihren Sohn an der Hand.
    «Oioioi, mein Ramu. Langsam, langsam. Wir wollen doch nicht, dass du da reinfällst.»
    Vor der Vishram Society hatte sich plötzlich eine Grube aufgetan. Sie verschluckte die Männer, die darin gruben, bis zum Kopf und Hals, und hin und wieder tauchten schlammbedeckte Arme auf. Mrs Puri zog ihren Sohn weg und blickte in die Grube. Alle 50 Zentimeter wechselte die Erde ihre Farbe, von Schwarz über Dunkelrot bis zu Knochengrau in der Tiefe, wo sie altertümliche Zementrohre erkennen konnte. Rot-gelbe Kabelstücke schauten wurmgleich aus den Lehmschichten. Ein Schild ragte aus der Grube, aber es zeigte in die falsche Richtung, und erst als Mrs Puri ganz um das Loch herumgegangen war, konnte sie
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