Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzte Worte

Letzte Worte

Titel: Letzte Worte
Autoren: Karin Slaughter
Vom Netzwerk:
Häuser, kleine Hütten und Schuppen, wo früher Menschen gelebt hatten, bevor das Gebiet in ein Wasserreservoir umgewandelt wurde. Es gab dort unten Geschäfte und Kirchen und eine Baumwollspinnerei, die den Bürgerkrieg überlebt hatte, nur um während der Depression geschlossen zu werden. Das alles war ausgelöscht worden von dem herabstürzenden Wasser des Ochawahee River, damit das Grant County eine zuverlässige Stromquelle erhielt.
    Der Großteil des Sees gehörte dem National Forest Service, deutlich über vierhundert Hektar, die um den See lagen wie eine Kapuze. Eine Seite grenzte an das Wohngebiet, wo die Wohlhabenderen lebten, die andere ans Grant Institute ofTechnology, einer kleinen, aber aufstrebenden staatlichen Universität mit fast fünftausend Studenten.
    Sechzig Prozent des achtzig Meilen langen Seeufers gehörte der State Forestry Division. Die bei weitem beliebteste Stelle war diese hier, Lover’s Point, wie die Einheimischen sie nannten. Hier durften Camper ihre Zelte aufstellen. Teenager kamen hierher, um Partys zu feiern, und hinterließen oft leere Bierflaschen und benutzte Kondome. Hin und wieder gab es einen Anruf wegen eines Feuers, das irgendjemand hatte außer Kontrolle geraten lassen, und einmal war ein tollwütiger Bär gemeldet worden, der sich dann aber als altersschwacher Labrador erwies, der sich vom Lagerplatz seines Herrchens fortgeschlichen hatte.
    Gelegentlich wurden hier auch Leichen gefunden. Einmal war ein Mädchen lebendig begraben worden. Mehrere Männer, Teenager, wie vorauszusehen gewesen war, waren ertrunken, als sie diverse Mutproben vollführten. Im letzten Sommer hatte ein Kind sich das Genick gebrochen, als es kopfüber in das flache Wasser der kleinen Bucht sprang.
    Die beiden Taucher hielten inne und ließen das Wasser von ihren Anzügen tropfen, bevor sie ihre Arbeit wiederaufnahmen. Schließlich, nach zustimmendem Nicken von allen Umstehenden, wurde die junge Frau höher aufs Ufer gezogen. Die Waschbetonblöcke hinterließen tiefe Furchen in dem sandigen Boden. Es war halb sieben in der Früh, und der Mond schien zu blinzeln, als die Sonne langsam über den Horizont stieg. Die Türen des Krankenwagens gingen auf. Die Sanitäter fluchten über die bittere Kälte, als sie die Rollbahre herauszogen. Einer hatte einen Bolzenschneider über der Schulter. Er knallte mit der Hand auf die Motorhaube des Transporters des Coroner, und Dan Brock schreckte hoch und fuchtelte mit den Armen. Er schaute die Sanitäter streng an, blieb aber, wo er war. Lena konnte es ihm nicht verdenken, dass er keine Lust hatte, sich in den Regen zu stürzen. Das Opfer würde nirgendwo mehr hingehen außer in die Leichenhalle. Blinklichter und Sirenen waren hier nicht nötig.
    Während Lena zu der Leiche lief, faltete sie die Beweismitteltüte mit dem Abschiedsbrief sorgfältig zusammen, steckte sie in ihre Parkatasche und zog einen Stift und ihr Spiralnotizbuch heraus. Den Regenschirm zwischen Hals und Schulter eingeklemmt, notierte sie sich Uhrzeit, Datum, Wetter, Anzahl der Sanitäter, Anzahl der Taucher und Anzahl der Fahrzeuge und Polizisten sowie eine kurze Beschreibung der Umgebung, wobei sie auch auf die ernst feierliche Stille der Szenerie und das völlige Fehlen von Schaulustigen einging– all die Details, die sie später genauso in ihren Bericht würde tippen müssen.
    Das Opfer war ungefähr so groß wie Lena, etwa eins dreiundsechzig, aber viel zierlicher. Ihre Handgelenke waren zart wie Vogelknochen. Die Fingernägel waren unregelmäßig abgenagt. Sie hatte schwarze Haare und extrem weiße Haut. Vermutlich war sie Anfang zwanzig. Ihre geöffneten Augen waren matt wie Baumwolle. Der Mund war geschlossen. Die Lippen waren schartig, als hätte sie nervös darauf herumgekaut. Vielleicht hatte aber auch ein Fisch Hunger bekommen.
    Ohne die Zugkraft des Wassers war die Leiche einfacher zu manövrieren, und so waren nur drei Sanitäter nötig, um sie auf die Rollbahre zu hieven. Schlick vom Seegrund bedeckte sie vom Kopf bis zu den Zehen. Wasser troff aus ihrer Kleidung– Bluejeans, ein schwarzes Fleece-Shirt, weiße Socken, keine Schuhe, eine offene, dunkelblaue Aufwärmjacke mit dem Nike-Logo auf der Vorderseite. Die Rollbahre schwankte, und ihr Kopf kippte von Lena weg.
    Lena hörte auf zu schreiben. » Moment mal « , rief sie, weil sie spürte, dass hier irgendwas nicht stimmte. Sie steckte ihr Notizbuch in die Tasche und ging einen Schritt auf die Leiche zu. Im Nacken des
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher