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Letzte Worte

Letzte Worte

Titel: Letzte Worte
Autoren: Karin Slaughter
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riss sie mit. Wegen des Designs der Karosserie konnte der alte Käfer schwimmen, und auch dieses neuere Modell war geschwommen. Zumindest am Anfang.
    Die Mitglieder der Kirchengemeinde, die eben von ihrem wöchentlichen gemeinsamen Potluck-Abendessen kamen, bei dem jeder etwas mitbrachte und auf einen Tisch stellte, wussten nicht, was sie tun sollten, weil jeder Angst hatte, selbst von der Flut erfasst zu werden. Voller Entsetzen sahen die Leute zu, wie der Käfer sich auf der Oberfläche drehte und dann nach hinten kippte. Wasser strömte in den Innenraum. Mutter und Kind wurden von der Strömung mitgerissen. Die Frau, die von der Zeitung interviewt wurde, sagte, sie werde für den Rest ihres Lebens abends beim Einschlafen und morgens beim Aufwachen die Hand des kleinen Dreijährigen sehen, die immer wieder aus dem Wasser herausschnellte, bevor das arme Kind schließlich in die Tiefe gezogen wurde.
    Auch Allison konnte nicht aufhören, an das Kind zu denken, obwohl sie in der Bibliothek gewesen war, als es passierte. Obwohl sie die Frau und das Kind und auch die Dame nicht kannte, die mit der Zeitung gesprochen hatte, sah sie, sooft sie die Augen schloss, immer diese kleine Hand aus dem Wasser herausragen. Manchmal wurde die Hand größer. Manchmal war es ihre Mutter, die die Hand hilfesuchend nach ihr ausstreckte. Manchmal wachte sie schreiend auf, weil die Hand sie in die Tiefe zog.
    Wenn sie ehrlich war, musste sie sagen, dass ihr schon lange vor dem Zeitungsartikel dunkle Gedanken durch den Kopf gegangen waren. Sie konnte nicht alles aufs Wetter schieben, doch mit Sicherheit hatten der ständige Regen und die unerbittlich graue Wolkendecke in ihrem Gemüt ihre ganz eigene Art der Verzweiflung heraufbeschworen. Um wie viel einfacher wäre es, wenn sie jetzt aufgäbe? Warum sollte sie nach Elba zurückkehren und zu einer zahnlosen, abgehärmten alten Frau mit achtzehn Kindern werden, da sie doch einfach in diesen See gehen und einmal ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen könnte?
    Sie wurde so schnell wie ihre Mutter, dass sie beinahe spürte, wie ihre Haare ergrauten. Sie war genauso schlimm wie Judy– sie glaubte, sie wäre verliebt, obwohl der Kerl nur daran interessiert war, was sie zwischen ihren Beinen hatte. Ihre Tante Sheila hatte letzte Woche am Telefon so etwas in der Richtung gesagt. Allison hatte sich über Jason beklagt, weil sie sich wunderte, dass er ihre Anrufe nicht erwiderte.
    Ein Zug an ihrer Zigarette, und dann beim Ausatmen: » Du klingst genau wie deine Mutter. «
    Ein Messer in der Brust wäre schneller, sauberer gewesen. Das Schlimmste war, dass Sheila recht hatte. Allison liebte Jason. Sie liebte ihn viel zu sehr. Sie liebte ihn so, dass sie ihn zehnmal am Tag anrief, obwohl er nie abhob. Sie liebte ihn so sehr, dass sie alle zwei Minuten auf ihrem blöden Computer auf Empfangen klickte, nur um nachzusehen, ob er eine ihrer unzähligen E-Mails beantwortet hatte.
    Sie liebte ihn so sehr, dass sie jetzt mitten in der Nacht hier draußen war und die Drecksarbeit erledigte, zu der er selbst nicht den Mut hatte.
    Allison ging noch einen Schritt auf den See zu. Sie spürte, wie ihr Absatz zu rutschen anfing, aber der Selbsterhaltungstrieb ihres Körpers übernahm, bevor sie hinfiel. Dennoch leckte das Wasser an ihren Schuhen. Ihre Socken waren bereits durchnässt. Ihre Zehen waren mehr als taub, so kalt, dass ein scharfer Schmerz bis zum Knochen zu stechen schien. Würde es so sein– ein langsames, betäubendes Gleiten durch eine schmerzlose Röhre?
    Sie hatte Angst vor dem Ersticken. Das war das Problem. Als Kind hatte sie das Meer geliebt, aber als sie dreizehn Jahre alt wurde, hatte sich das geändert. Ihr idiotischer Cousin Dillard hatte sie im örtlichen Schwimmbad unter Wasser gedrückt, und jetzt nahm sie nicht einmal mehr gerne Vollbäder, weil sie Angst hatte, Wasser in die Nase zu bekommen und in Panik zu geraten.
    Wenn Dillard hier wäre, würde er sie wahrscheinlich in den See stoßen, ohne dass sie ihn darum bitten müsste. Als er sie damals das erste Mal unter Wasser hielt, hatte er nicht einen Funken Reue gezeigt. Allison hatte das Mittagessen wieder von sich gegeben. Ihr Körper hatte gebebt vor Schluchzen. Ihre Lunge hatte gebrannt, und er hatte nur » Ha-ha « gesagt wie ein alter Mann, der einen von hinten in den Arm zwickte, nur um einen aufkreischen zu hören.
    Dillard war Sheilas Sohn, ihr einziges Kind, das noch enttäuschender für sie war als sein Vater, falls das
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