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Letzte Worte

Letzte Worte

Titel: Letzte Worte
Autoren: Karin Slaughter
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einer Vielzahl von Möglichkeiten aufgewachsen waren und keinen Gedanken daran verschwendet hatten, nicht direkt nach der Highschool aufs College zu gehen. Keiner ihrer Kommilitonen kicherte höhnisch, wenn sie die Hand hob, um eine Frage zu beantworten. Sie glaubten nicht, man würde sich verkaufen, wenn man einem Lehrer tatsächlich zuhörte und versuchte, etwas anderes zu lernen, als sich künstliche Fingernägel aufzukleben und sich Haarverlängerungen einzuflechten.
    Und die Umgebung des Colleges war hübsch. Elba war ein Elendsquartier, sogar fürs südliche Alabama. Heartsdale, die Stadt, in der die Grant Tech sich befand, fühlte sich an wie eine Stadt, die man sonst nur im Fernsehen sah. Jeder pflegte seinen Garten. Im Frühling säumten Blumen die High Street. Völlig Fremde winkten einem zu, ein Lächeln auf dem Gesicht. Und in dem Diner, in dem sie arbeitete, waren die Stammgäste freundlich, auch wenn sie wenig Trinkgeld gaben. Die Stadt war nicht so groß, dass sie sich verloren vorkam. Leider war sie nicht groß genug, um Jason aus dem Weg zu gehen.
    Jason.
    Sie hatte ihn in ihrem Anfangsjahr kennengelernt. Er war zwei Jahre älter, erfahrener und weltgewandter. Seine Vorstellung eines romantischen Rendezvous beschränkte sich nicht auf einen Kinobesuch und eine schnelle Nummer in der letzten Reihe, bevor der Geschäftsführer einen hinauswarf. Er führte sie in richtige Restaurants mit Stoffservietten auf den Tischen. Er hielt ihre Hand. Er hörte ihr zu. Beim Sex verstand sie endlich, warum die Leute es »Liebe machen« nannten. Jason wollte nicht einfach nur etwas Besseres für sich selbst. Er wollte auch etwas Besseres für Allison. Sie glaubte, dass das, was sie miteinander hatten, eine ernsthafte Sache wäre ; die letzten zwei Jahre ihres Lebens hatte sie damit verbracht, mit ihm etwas Gemeinsames aufzubauen. Und dann hatte er sich plötzlich in einen völlig anderen Menschen verwandelt. Plötzlich war alles, was an ihrer Beziehung so großartig gewesen war, der Grund, warum sie in die Brüche ging.
    Und wie es auch bei ihrer Mutter gewesen war, hatte Jason es irgendwie geschafft, ihr die Schuld für alles in die Schuhe zu schieben. Sie sei kalt. Sie sei distanziert. Sie sei zu fordernd. Sie habe nie Zeit für ihn. Als wäre Jason ein Heiliger, der den ganzen Tag nur darüber nachdachte, was Allison glücklich machen könnte. Sie war nicht diejenige, die mit Freunden auf nächtelange Sauftouren ging. Sie war nicht diejenige, die sich im College mit merkwürdigen Leuten einließ. Sie war, verdammt noch mal, nicht diejenige, die sich von diesem Trottel aus der Stadt hatte einwickeln lassen. Wie konnte das Allisons Schuld sein, wenn sie diesem Kerl noch nie ins Gesicht gesehen hatte?
    Allison zitterte wieder. Bei jedem Schritt, den sie an diesem verdammten See entlangging, kam es ihr vor, als würde das Ufer noch einmal hundert Meter länger werden, nur um ihr eins auszuwischen. Sie schaute hinunter auf die nasse Erde unter ihren Füßen. Seit Wochen stürmte es. Eine Sturzflut hatte Straßen weggespült, Bäume umgerissen. Mit schlechtem Wetter hatte Allison noch nie gut umgehen können. Die Dunkelheit nagte an ihr, zog sie nach unten. Sie machte sie launisch und weinerlich. Die ganze Zeit wollte sie nur schlafen, bis die Sonne wieder herauskam.
    » Scheiße! « , zischte Allison, als sie ausrutschte und sich gerade noch fangen konnte. Ihre Hosenbeine waren schlammverklebt fast bis zu den Knien, die Schuhe so gut wie durchweicht. Sie schaute auf den aufgewühlten See hinaus. Der Regen hängte sich ihr an die Wimpern. Sie strich sich die Haare mit den Fingern zurück, während sie das dunkle Wasser anstarrte. Vielleicht sollte sie ausrutschen. Vielleicht sollte sie sich in den See fallen lassen. Wie würde es sein, sich selbst loszulassen? Wie würde es sich anfühlen, sich von der Unterströmung immer weiter in die Mitte des Sees ziehen zu lassen, wo sie keinen Boden mehr unter den Füßen hatte und sie keine Luft mehr bekam?
    Es war nicht das erste Mal, dass sie darüber nachdachte. Wahrscheinlich war es das Wetter, der unaufhörliche Regen und der trübe Himmel. Im Regen wirkte alles noch viel deprimierender. Und einige Dinge waren deprimierender als andere. Letzten Donnerstag hatte die Zeitung einen Artikel über eine Mutter mit ihrem Kind gebracht, die zwei Meilen vor der Stadt in ihrem VW Käfer ertrunken waren. Kurz vor der Third Baptist Church überschwemmte eine Sturzflut die Straße und
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