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Letzte Nacht

Letzte Nacht

Titel: Letzte Nacht
Autoren: Stewart O'Nan
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braucht Manny nicht zuzugeben, dass er zögert, die Gruppe Nicolette anzuvertrauen. Es sind Büroangestellte, immer anstrengend und chaotisch, und am Ende legen sie wahrscheinlich zusammen und knausern beim Trinkgeld.
    «Vielen Dank», sagt Roz und hilft ihm, die schweren Tische an ihren Platz zu schleppen.
    Jacquie packt mit an, und damit ist dies der erste richtige Moment, in dem sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen – der unbeholfene Tanz mit einem Vierertisch mitten im Raum, vor lauter Leuten, die ihnen zuschauen. Am liebsten würde er mit ihr reden wie früher, beide unter der Bettdecke aneinander gekuschelt, seine Lippen so nah an ihrem Ohr, dass er bloß zu flüstern brauchte. Sie würde lachen und ihn wegstupsen, und dann würden sie sich wieder umschlingen und sich Geheimnisse aus ihrer Kindheit erzählen, auch die wenigen Erinnerungen, die er an seine Mutter hat.
    Jacquie hebt den Tisch mit den Fingerspitzen an, schlurft mit Manny seitwärts, stellt ihn ab und rückt ihn zurecht, bis die Kanten bündig sind, dann geht sie zum nächsten. Manny folgt ihr. Gemäß der Firmenpolitik hat sie ihren Diamantstecker rausgezogen und sieht so wehrlos und verletzlich aus wie seine Oma, als sie im Krankenhaus ohne ihre Brille aufwachte. Er hat Jacquie schon gefragt, ob sie mit ihnen – ihnen, nicht ihm – kommen will, und sie hat abgelehnt, wie also soll er sie jetzt noch umstimmen? Er stellt sich vor, wie er sie anfleht und zum Ausrasten bringt – wie er ihr noch mehr Grund gibt, ihre traurige gemeinsame Vergangenheit hinter sich zu lassen.
    Ihm fällt ein, wie er noch im Frühling ganz selbstverständlich neben ihr arbeitete, wie scharf und herrlich es war, ihr Geheimnis zu hüten; es konnte in einem innigen Kuss hinten an der Garderobe zum Ausdruck kommen oder indem sie ihn an der Hand auf die Laderampe hinauszog. Inzwischen ist dasselbe Schweigen zwischen ihnen negativ und nur noch schwach aufgeladen, als hätten sie sich geeinigt, ihre Gefühle zu ersticken oder so zu tun, als hätten sie keine. Er vergisst ständig, dass sie einen Waffenstillstand geschlossen haben. Er sollte unbeteiligt sein.
    Sie stellen die Stühle auf, und Manny gibt Kendra das Zeichen, die Gruppe hereinzuschicken. Der Mann mit der Fliege nickt ihm im Vorbeigehen zu, von Chef zu Chef, als hätte Manny all das ihm zuliebe getan.
    Nicolette fegt mit einem leeren Tablett vorbei. Weil die große Gruppe so viel Platz einnimmt, muss Kendra in Nicolettes Bereich zwei Tische auf einmal besetzen, und an einem ihrer Vierertische sitzen zwei Moms mit einem kleinen Jungen, der auf der Sitzbank auf und ab hüpft, mit den Fäusten wedelt und nur innehält, um den Kopf über den Tisch zu recken und durch einen Strohhalm Limonade zu schlürfen. Für einen Hochstuhl ist er zu groß, also schaut Manny an dem Tisch vorbei und fragt die Mutter, ob er ihr einen Kindersitz bringen soll.
    «Das wäre wunderbar», sagt sie.
    Er vergisst nicht, den Sitz abzuwischen, den er von der Garderobe nimmt, gesprenkeltes braunes Plastik mit zwei Vertiefungen für einen winzigen Hintern. Zunächst setzt sich der Junge, wegen dem Reiz des Neuen und der Aufmerksamkeit, aber als Manny sich durch die Bar schlängelt, um Dom bei den Getränken für die Büroangestellten zu helfen, steht der Kleine schon auf dem Kindersitz, und das Ganze ist noch gefährlicher als vorher. Mannys Gedanken schweifen wieder zu Gerichtsverhandlungen, saftigen Vergleichszahlungen, zu dem Traum von einem Lotteriegewinn, einem Haus auf dem Lande, dem Traum, nie wieder arbeiten zu müssen. Ein Aufblitzen im Raum bringt ihn zur Besinnung – jemand aus der Gruppe macht Fotos. Vielleicht ein Geburtstag. Sie sind laut, wegen des aufbrandenden Gelächters schauen die anderen Gäste schon rüber, und wieder ist er froh, dass er die Gruppe nicht Nicolette überlassen hat.
    Dom entleert eine Flasche Chardonnay und öffnet eine neue, während Manny die Gläser für Jacquie in Gänseblümchenmuster auf einem Tablett verteilt. Hier ist alles im Griff, also begibt er sich in die Küche und sieht im Vorbeigehen, dass in Nicolettes Bereich eine Birne durchgebrannt ist. Er schraubt sie heraus und nimmt sie mit, schüttelt sie dicht am Ohr, um den Glühfaden klingeln zu hören, und wehrt mit dem freien Arm die Schwingtür ab.
    In der Küche herrscht Hochbetrieb, es brutzelt und klirrt und scheppert, aber weil so viele Leute nicht erschienen sind, wirkt sie leer, und obwohl er es besser weiß, befürchtet
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