Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzte Haut - Roman

Letzte Haut - Roman

Titel: Letzte Haut - Roman
Autoren: Matthes und Seitz Verlag GmbH
Vom Netzwerk:
Sowjets nicht vor Wien und die Franzosen nicht in Baden.
    Der Anführer der Deutschen gab zwar noch im März den Nerobefehl, alle deutschen Städte und Industrieanlagen seien vor der Eroberung durch die Alliierten niederzubrennen, jedoch gelang es seinen Stellvertretern, diesen Befehl zu unterlaufen, und Kurt Schmelz wurde im April fünfundvierzig mitgeteilt, der Strafantrag gegen Pohl werde aus Gründen der Überlastung abgelehnt.
    Sturmbannführer Doktor Kurt Schmelz irrte den ganzen April in Böhmen umher, während Berlin von der Roten Armee eingeschlossen war, die Briten an der Elbe standen, Mussolini erschossen wurde und der Anführer der Deutschen sich tötete.
    Die beiden Koffer wie seinen Augapfel bewachend, hielt sich Schmelz weiter in Böhmen auf, ehe er sich zum Monatsende hin tschechischen Truppen ergab, die ihn beim Anblick seiner Schulterstücke erst einmal zusammenschlugen, ehe sie fragten, wer er sei und wie sein Name laute.
    Er hätte sich diese verdammten Schulterstücke abreißen sollen! Er hätte nicht so ein Idiot sein sollen! Doktor Kurt Schmelz tastete über das geschwollene Gesicht und schalt sich einen Narren, sich nicht einfach die Uniform eines Sturmmanns genommen zu haben, die eines jener armen Teufel, die doch überall tot in den Wäldern gelegen hatten. Erst jetzt kam er aus dem Schockzustand heraus, in dem er sich befunden hatte, nachdem er erfahren hatte, dass der Strafantrag gegen Pohl abgelehnt worden war, und erst jetzt blickte er sich um und fand sich in der Gefangenschaft wieder. Es habe wohl der Schläge bedurft, meinte er, um aufzuwachen und zu erkennen, wie knapp er in den letzten Kriegstagen dem Tod entgangen sei, wie knapp und wie oft.
    Kinder und Betrunkene kommen nicht unter die Räder, dachte er: Aber betrunken bin ich ja gar nicht.
    Die Tschechen nahmen ihm die Koffer ab, obwohl er darauf drängte, sie behalten zu dürfen, und während er in eines der Kriegsgefangenenlager gebracht wurde, in dem sich nur hochgestellte Nazigrößen befanden, verschwanden die beiden Koffer mit dem Beweismaterial gegen Pohl und andere für immer. Die ganze Arbeit der letzten zwei Jahre! Schmelz hockte im Gefangenenlager, hielt sich abseits der anderen, mischte sich nie in Gespräche ein und trauerte immer wieder um seine verlorenen Arbeitsergebnisse, während sich zur gleichen Zeit der Erbprinz zu Waldeck Pymont, der mittlerweile vom Konzentrationslager Buchenwald aus die Verteidigung des Wehrkreises neun organisierte, den Häftling Koch vorführen ließ und dessen Todesurteil Ende April fünfundvierzig eigenhändig vollstreckte. Der Obergruppenführer erschoss den ehemaligen Kommandanten des Lagers, in dem dieser so grausam gewütet hatte, kurz bevor die Dritte US Armee das Lager befreite und Deutschland nach dem Selbstmord seines Anführers Anfang Mai endlich kapitulierte. Am siebten Mai fünfundvierzig befand das Deutsche Reich sich mit vierundfünfzig Ländern im Kriegszustand. Einen Tag später kam der Befehl zur Einstellung aller Kampfhandlungen, und in Europa kam es den Menschen vor, als wären diese sechs Kriegsjahre tausend Schreckensjahre gewesen. Doch schon am vierzehnten Mai fünfundvierzig öffneten in Flensburg und Schleswig die Banken und Sparkassen wieder ihre Schalter.
    Dem alten Körper, dem die Abtrennung zur Umwelt abgefault war, diesem alten Körper, dem die Verbindung zwischen Verstand und Umgebung abgerissen war, dem alten Körper, dem die Fähigkeit zum Fühlen nun ganz und gar verloren gegangen war und der auch zum Sehen, Riechen und Schmecken nicht mehr taugte, dieser alte Körper also, der nun nur noch aus einem Nichts bestand, von dem sich der Wundbrand immer weiter nährte, dieser Körper, vom eigenen Willen der Hülle beraubt, zerfiel. Er löste sich auf in all seine Bestandteile, und ohne die verbindende Haut wurde er zum Fraß für den Wundbrand, an dem im Ersten Weltkrieg mehr Soldaten gestorben waren als an den Wunden selbst. Doktor Kurt Schmelz hatte begriffen.
    Das Glas war umgestoßen. Die Neige verrann.
    Anna sah von der Tür aus das nackte Fleisch feucht glänzen. Sie fröstelte in Hut, Mantel und Schal.
    Sie war doch nur achtundvierzig Stunden fort gewesen! Doch viel länger auf keinen Fall! Doch nur drei Kännchen Kaffee im Bahnhofsrestaurant, doch nur eine einzige Übernachtung im Bahnhofshotel. Sie war doch nur einige Tagträume lang am Meer gewesen, am blauen.
    Noch immer hielt sie den verbrauchten Koffer in der Hand, der ihr die Schulter nach
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher