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Lesereise Tschechien

Lesereise Tschechien

Titel: Lesereise Tschechien
Autoren: Klaus Brill
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sprachliche Gemeinschaft mit Deutschland gemeint ist. So wie die Eidgenossenschaft bis 1648 zum Heiligen Römischen Reich (deutscher Nation) gehörte, war bis zu dessen unrühmlichem Ende 1806 ja auch das Königreich Böhmen ein Teil dieses Staatsgebildes, das schon eine kleine Europäische Union darstellte. Ebenso wie Österreich oder Luxemburg.
    Abgesehen davon, dass damals dynastische und nicht nationale Fragen die Vermischung der Völker lenkten, war die Anwesenheit eines deutschsprachigen Bevölkerungsteils in Böhmen nicht Ergebnis einer Invasion, sondern einer gewollten, erbetenen Migration. Als im hohen Mittelalter in ganz Europa beim sogenannten Landesausbau Wälder gerodet, unbesiedelte Gebiete erschlossen, Ödland kultiviert und neue Städte angelegt wurden, warben die Herrscher Böhmens, zum Beispiel der machtvolle König Přemysl Otakar II., mit Hilfe von Ansiedlungsunternehmern, den Lokatoren, Tausende Bauern, Handwerker, Berg- und Kaufleute an. Man versprach ihnen Privilegien, und sie kamen aus Bayern, Franken, Sachsen, Thüringen und Österreich. Dass zwischen den keineswegs integrationswilligen Zuwanderern und den ansässigen Tschechen soziale, später auch politische und nationale Spannungen aufkamen, wurde prägend für das Mit-, Für-, Neben- und Gegeneinander, das 1945 im Ohneeinander endete.
    Jetzt, zwei Generationen später, wird der Avantgarde des tschechischen Kulturlebens offenbar bewusst, dass da eine Lücke ist. Jahrhunderte gemeinsam gelebter Geschichte sind nicht mehr lebendig und präsent, und in diesen Jahrhunderten hat es nicht nur Streit, sondern auch fruchtbare Zusammenarbeit gegeben. In Ústí nad Labem (Aussig), das einmal eine deutschsprachige Bevölkerungsmehrheit hatte, wird seit Jahren ein »Museum der deutschsprachigen Bürger der böhmischen Länder« entwickelt. Es ist die erste Einrichtung dieser Art im Land, nach so vielen Jahren der Konfrontation eine kleine historische Sensation. Die Trägergesellschaft ist das Collegium Bohemicum, dessen Direktorin Blanka Mouralová im Jahr 2010 zusammen mit dem tschechischen Kulturminister Jiří Besser das fertige Museumskonzept vorstellte.
    Und siehe da, es bricht sich eine völlig neue Betrachtung Bahn, die jenseits aller Stereotypen den Fakten Raum gibt und überraschende Akzente setzt. Für den Gang durch die Geschichte wurde ein sehr eigenwilliger Parcours gewählt, der natürlich weit hinter den Ersten Weltkrieg zurückgreift. Und übrigens ist im Museumsprospekt, der die Gliederung der Ausstellung darlegt, an keiner Stelle von den Sudetendeutschen die Rede. Sondern von »unseren Deutschen«.
    Ist auch besser so. Denn so gehören auch die deutschsprachigen Brünner und Prager dazu, die den Sudetendeutschen nicht zugerechnet werden. Und die haben ja doch bedeutende Kulturleistungen beigesteuert. Zum Beispiel die Werke von Franz Werfel, Rainer Maria Rilke, Egon Erwin Kisch oder Franz Kafka.

Blick zurück nach vorn
Tschechische Schüler erforschen das Unrecht, das ab 1945 den Vertriebenen widerfahren ist
    Es ist immer wieder dieser Überraschungseffekt, den der Lehrer Zdeněk Zákutný festgestellt hat, auch bei sich selber. »Ich habe mich gefragt: Warum weiß ich nichts davon?« Warum zum Beispiel wusste er als Historiker bis vor einiger Zeit nichts Näheres über diese Sache im nahen Postoloprty, das die deutschen Bewohner früher Postelberg nannten? Auch der eine oder andere seiner Schüler aus der Klasse 6A des Gymnasiums in Louny kam ins Grübeln darüber, dass nicht weit entfernt von dort, wo sie wohnen oder regelmäßig vorbeilaufen, damals diese schrecklichen Dinge passiert sind. In Postoloprty zum Beispiel, in der Kaserne, bei der Schule, in der Fasanerie. Überhaupt: dass man dachte, diese Deutschen seien damals mit den Nazis ins Land gekommen und nach dem Zusammenbruch des Verbrecher-Regimes dann wieder hinausgeworfen worden. Dabei waren sie doch seit Jahrhunderten da gewesen.
    Es ist keine normale Schulstunde, die die Klasse 6A an diesem Juni-Nachmittag im nordtschechischen Louny absolviert. Der Lehrer Zdeněk Zákutný sitzt bei seinen Schülern in der Bank, vorn an der Tafel steht heute der Sozialwissenschaftler Ondřej Matějka, der aus Prag hergekommen ist. Behutsam fragt er, welches denn bisher die Erfahrungen seien mit diesem Projekt, das sich mit »tragischen Orten der Erinnerung« befasst und das in Tschechien für eine neue Phase der Auseinandersetzung mit der Nachkriegsgeschichte steht. Erstmals sind
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