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Lesereise Tschechien

Lesereise Tschechien

Titel: Lesereise Tschechien
Autoren: Klaus Brill
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heran. Man passiert verwitternde Fabriken und Hinterhöfe, auf denen Hühner und Gänse sich tummeln. Die Landschaft ist weit, das Wintergetreide ist eingesät, auf den Hügeln am Rande lichtet sich der Wald. Von Zeit zu Zeit gibt der Zug ein dunkles Signal, damit sich an den unbeschrankten Bahnübergängen kein Leichtsinniger auf das Gleis begebe, und er hält in jedem Dorf. An den kleinen Bahnhöfen stehen Fahrräder im Ständer, und zwischen den Gleisen wächst Gras.
    Manchmal, wenn man über die Felder blickt und sich dem eisernen Ruckeln des Zuges überlässt, könnte man sich in die Zeit zurückversetzt fühlen, in der in diesen Breiten noch der Kaiser Franz Joseph herrschte. Aber dann fällt der Blick am nächsten Bahnhof auf jene ungesund bunten Graffiti, die man in Tschechien so häufig findet, und man liest: »Fuck all«. Außerdem lehrt der Blick in den Fremdenführer: Dies war, auch wenn Ostrau, Krakau, Brünn und Wien nicht allzu weit entfernt sind, vor hundert Jahren kein Habsburger Land. Hier herrschten die Preußen, und ihre letzten Nachfahren leben heute hier.
    Jedenfalls sagt dies die charmante Kellnerin in der Schlossgaststätte von Krawarn, die mit gekonntem Schwung eine dampfende Rinderbrühe serviert. Die Speisekarte ist in Tschechisch und in Polnisch gehalten, aber was die Dame mit ihrer Kollegin da redet, ist weder das Eine noch das Andere und doch beides zusammen und noch ein bisschen mehr, auch Deutsches kommt anscheinend darin vor. »Wir reden po praijsku«, sagt sie lachend. Preißisch. Und was ist das? Eine Mischung aus Tschechisch, Polnisch und Deutsch.
    Sie nennen sich Prajzáci , Preiß’n eben, und wenn dies auch ein alter Spitzname ist, so hat der Regionalhistoriker Vilém Plaček doch ein ganzes Buch geschrieben, das diesen Titel trägt. Es führt in der Unterzeile die Jahreszahl 1742, die für diese kleine Region im Schatten der Weltgeschichte ihr großes Schaltjahr war. Bis 1742 war das Hultschiner Ländchen, im Tschechischen Hlučínsko genannt, zunächst ein Teil der Markgrafschaft Mähren, später gehörte es zum schlesischen Fürstentum Troppau – zwischen Troppau (tschechisch: Opava) und Mährisch-Ostrau (Ostrava) liegt es auch eingebettet im flachen Land. Man nennt die Region Mährisch-Schlesien, die Oder entspringt nicht weit von hier im Odergebirge und fließt über Ostrau, dann in Polen durch Breslau und Stettin achthundertsechsundsechzig Kilometer weit nach Norden in die Ostsee.
    Mährisch-Schlesien war der südlichste Teil Schlesiens, das heute überwiegend zu Polen gehört. Und dieses Schlesien gehörte zum Königreich Böhmen und damit seit 1526 zum Reich der Habsburger. So lange, bis 1740 nach dem Amtsantritt der jungen Regentin Maria Theresia in Wien der habgierige preußische König Friedrich II. seinen ersten Schlesischen Krieg vom Zaune brach und 1742 die Einverleibung Schlesiens erreichte, bis auf einen kleinen Rest. Auch das Hultschiner Ländchen wurde damals preußisch, als Grenzregion am südlichen Rand, und blieb es bis nach dem Ersten Weltkrieg.
    1919 wurde im Versailler Vertrag, der den Zusammenbruch des Habsburger Reiches besiegelte, die Übergabe des Gebiets an die neu gegründete Tschechoslowakische Republik vereinbart. Ein Jahr später vollzog man sie, obwohl sich in einer informellen Volksbefragung über neunzig Prozent der achtundvierzigtausend erwachsenen Bewohner für den Verbleib bei Preußen und also Deutschland ausgesprochen hatten. Weshalb die Nachbarn sie eben als Prajzáci verspotteten.
    Es folgten 1938 die Besetzung durch die Nazitruppen und die Eingliederung ins Deutsche Reich, 1945 die Rückkehr zur Tschechoslowakei. Und 1989, nach dem Kollaps des Kommunismus, waren die althergebrachten Bindungen zu Deutschland noch immer gut dafür, dass den Bewohnern des Hultschiner Ländchens nach den Gesetzen der Bundesrepublik die deutsche Staatsbürgerschaft zuerkannt werden konnte, zusätzlich zur tschechischen. Hunderte machten davon Gebrauch und arbeiten bis heute in Deutschland und anderen Ländern des Westens.
    Wir sind hier an einer jener klassischen Nahtstellen in Mitteleuropa, an denen der slawische und der germanische Kulturraum aufeinandertreffen, die Traditionslinien sind wie Zöpfe ineinander geflochten. Die letzten Preußinnen reden eine slawische Mundart, servieren Pilsner Urquell und als Überraschungsgericht prajßische grofki – was das ist, bleibt ein Geheimnis. Draußen im Eingang verrät eine dreisprachig gehaltene Zeittafel,
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