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Lesereise Tschechien

Lesereise Tschechien

Titel: Lesereise Tschechien
Autoren: Klaus Brill
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eine »Tradition selbstbewundernder erweckungspatriotischer Trugbilder« ein. Die Betonung der besseren Vergangenheit lenke ab von der schlechteren Gegenwart. Gegen Kunderas Formel vom historischen »tschechischen Los« setzte Havel die Forderung: »Unser Schicksal hängt von uns ab.« Kundera entgegnete darauf im September 1969, die »neue Politik« sei nach der Invasion zwar zurückgewichen, aber keineswegs besiegt worden – eine Analyse, die bald von der Realität widerlegt wurde. Die »Normalisierung« unter dem neuen KP -Chef Gustav Husak trieb für zwanzig Jahre alle Hoffnungen aus.
    Dass nun die Literární noviny diese Polemik in der ersten Januar-Nummer 2008 nachdruckte, war zum Teil wohl der Eleganz und dem Niveau der Auseinandersetzung geschuldet, die der Chefredakteur Jakub Patočka in die heutige Zeit herüberretten wollte. Jede Woche ließ er die Debatte von Intellektuellen fortschreiben, bis zum Jahresende. Bekannte Autoren beteiligten sich, so der Politologe Jiří Pehe und der frühere Außenminister Jiří Dienstbier, außerdem Philosophen, Soziologen und Historiker.
    Jedoch die Macht des Wortes ist heutzutage gebrochen durch jene kulturelle Verwahrlosung, die nach 1989 mit dem Vordringen der Boulevard-Medien einherging. Die Literární noviny , die einst rund dreihunderttausend Käufer fanden, kommen heute nur noch auf wenige Tausend Druckexemplare. Die Redaktion, die einen eigenwilligen Linkskurs verfolgte, wollte mit der Reprise der Havel-Kundera-Kontroverse offenkundig das Nachdenken darüber anstoßen, was vom Prager Frühling bleibt und wie unter heutigen Bedingungen das kulturelle Leben wieder seine alte Lebendigkeit erlangen könnte. Ein dritter Weg zwischen 1968 und 2008 wurde gesucht.
    Das Echo war gering, auch die Titanen von damals hielten sich bedeckt. Václav Havel mochte zur Serie keinen Beitrag leisten, doch ließ er gegenüber der Zeitung Hospodářské noviny anklingen, wie er das Thema heute einordnet: »Das Jahr 1968 ist gekennzeichnet durch die Ideologie des Reformkommunismus, während die Leute im Jahr 1989 keinen Sozialismus mit menschlichem Antlitz mehr wollten.« Fall erledigt.
    Wie Kundera es sieht, blieb ungesagt. Er schwieg. Man hat sich allenfalls an seine Nachbemerkung zur »definitiven« tschechischen Ausgabe der »Unerträglichen Leichtigkeit des Seins« zu halten, jener Erzählung über die Liebe, die im Hintergrund sehr eindringlich die Invasion vom 21. August 1968 und ihre Folgen abbildet und die auch das Ende der Geschichte der Tschechen thematisiert. Das Werk, schrieb Kundera, sei »ein Roman und nichts als ein Roman«.

Das Imperium der Schuster
Der Fabrikant Tomáš Baťa drückte der Region Zlín seinen Stempel auf – für Generationen
    Als er geboren wurde, hatte der Erste Weltkrieg gerade begonnen. Seine Eltern nannten ihn Tomáš, nach dem Vater. Tomáš Baťa, der Unterscheidung halber Tomik gerufen. Als er in die Schule kam, musste er barfuß gehen wie alle anderen. Der Vater wollte nicht, dass der Fabrikantensohn sich über seine Mitschüler erhaben fühle. Und als er später – nach einem mehrjährigen Aufenthalt auf einem Londoner Gymnasium – in die Heimat zurückkehrte und in die väterliche Firma eintrat, fing er als Arbeiter in der niedrigsten Lohnstufe an. Auch dies natürlich auf Befehl des Vaters.
    Tomáš Baťa ist im Jahr 2008 im Alter von dreiundneunzig Jahren gestorben, und noch damals war auch der Schatten seines Vaters ein Grund dafür, warum dieser Tod von allen tschechischen Medien als quasi historisches Ereignis behandelt wurde. Vom Staatspräsidenten abwärts würdigte jeder, der Rang und Namen hatte, den Verblichenen als »wahrhaft große Persönlichkeit«, als Mythos und Legende, als ein Symbol des tschechischen Unternehmertums. Die Zeitung Mladá fronta Dnes schrieb gar, das Baťa-Imperium sei vielleicht der größte zivilisatorische Beitrag des Landes zum 20. Jahrhundert gewesen. Immerhin ist Baťa größter Schuhproduzent der Welt, mit mehr als vierzigtausend Beschäftigten in fünfundzwanzig Ländern, mit fünftausend eigenen Geschäften und täglich einer Million Kunden, wie auf der Website des Konzerns zu lesen ist.
    Der Name steht für eines der erstaunlichsten Kapitel europäischer Industriegeschichte. Auch dies geht zunächst auf Tomáš, den Älteren, zurück, einen Schuster aus Zlín in Mähren, der sein Gewerbe in achter Generation ausübte. 1894 gründete er mit zwei Geschwistern eine Firma, die er später allein
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