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Lesereise Tschechien

Lesereise Tschechien

Titel: Lesereise Tschechien
Autoren: Klaus Brill
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weiterführte, und erfand die fabrikmäßige Herstellung von Schuhen. In Amerika hatte er sich auf Industriespionage begeben und dort das Prinzip der Fließbandproduktion des Henry Ford kennengelernt, das er nach Mähren übertrug. Tausende Schuster, die nach alter Art im Einmannbetrieb werkelten, mussten aufgeben, nachdem Tomáš Baťa seine Massenfertigung begonnen und dazu den Einzelhandel für den Verkauf der Schuhe gewonnen hatte.
    Nicht weniger Aufsehen erregte er mit seinen sozialen Ambitionen. Das Städtchen Zlín, wo er auch Bürgermeister war, baute er rund um die Firma zur modernen Heimstatt des »Neuen Menschen« im Industriezeitalter aus. Es triumphierte der Funktionalismus, der Architekt František Lydie Gahura ergänzte »die Fabrik im Grünen« mit avantgardistischen Hochhaussiedlungen und Einfamilienwürfeln. Tomáš Baťa gab seinen Arbeitern hohe Löhne und Sozialleistungen, verschaffte ihnen Zugang zu Bildung, dekretierte aber auch, wie sie leben sollten. Als der Patriarch 1932 bei einem Flugzeugabsturz starb, weil er sich vom Nebel nicht aufhalten lassen wollte, übernahm sein Stiefbruder Jan Antonín die Führung.
    Tomáš, der Sohn, geriet mit dem Onkel später in heftigen Streit um das Erbe, man prozessierte jahrelang. Der Einmarsch der Nazis und die Zerschlagung der Tschechoslowakei nötigten sie beide ins Exil, den Älteren nach Brasilien, den Jüngeren nach Kanada. Von Toronto aus fügte Tomáš Baťa die ausländischen Gesellschaften der Firma später neu zusammen. Derweil warfen in der Heimat nach dem Krieg die dort an die Macht gelangten Kommunisten Jan Antonín Baťa in einem Prozess Kollaboration mit den Nazis vor – »ein typisch stalinistisches Spektakel«, wie der polnische Reporter Mariusz Szczygieł in einer Studie zur Firmengeschichte urteilt. Das Stammwerk in Zlín wurde verstaatlicht und heruntergewirtschaftet, die Stadt in Gottwaldov umbenannt, nach dem kommunistischen Parteichef Klement Gottwald.
    Erst nach der Wende von 1989 hatte Tomáš Baťa, inzwischen fünfundsiebzigjährig, dann die Genugtuung, bei der Rückkehr nach Zlín von einer riesigen Menschenmenge begrüßt zu werden. Er kaufte Reste der alten Firma wieder auf, produziert wird aber weiter in Billiglohnländern. Und erst im Jahr 2007 war es soweit, dass auch der Prozess von 1947 gegen Jan Antonín Baťa neu aufgerollt und das Urteil von damals aufgehoben wurde. Offen blieb noch, wie die damit zusammenhängende Enteignung wiedergutgemacht werden könnte.
    Das Imperium der Schuster wird heute jedenfalls nicht mehr von Zlín aus gesteuert, sondern von Toronto. Der Hauptsitz ist in Lausanne und die gesellschaftsrechtliche Heimat in Luxemburg. An der Spitze steht seit 2001 Baťa III., der Sohn des jetzt verstorbenen Tomik. Er heißt nicht mehr Tomáš, sondern Thomas. Thomas George Baťa.

Die letzten Preußen
Das Hultschiner Ländchen ist eine klassische Nahtstelle, an der verschiedene Kulturen aufeinandertreffen
    Die Leute sind sehr nett im Hultschiner Ländchen, das ist das Wichtigste. Dass manche Schlösser im Winter geschlossen sind, ist nicht so schlimm. Es wird vollkommen aufgewogen dadurch, dass man als durchreisender Fremder hier nur mit freundlichen Frauen in Kontakt kommt. Schon die Dame im Informationszentrum von Schloss Hultschin war sehr hilfsbereit und hatte allerlei Material zur Hand. Auch die Sprecherin der Stadt in ihrem hohen Büro im Rathaus gab bereitwillig Auskunft. Als Bahnreisender auf der eingleisigen Strecke von Hultschin nach Krawarn wird man ebenfalls ausschließlich von Frauen betreut: Eine verkauft die Karten und erklärt aufs Netteste und Genaueste die Möglichkeiten der Rückfahrt, eine andere hebt die Kelle und lässt den Zug abfahren. Die Fahrscheinkontrolle obliegt zwei Schaffnerinnen mit stolzen Mützen, sie tragen die Dienstausweise mit Lichtbild offen am Anorak.
    Tschechische Provinzbahnhöfe werden meistens von Frauen geleitet und betrieben. Manchmal kommt man in Wartezimmer, die eingerichtet sind wie Wohnküchen aus alter Zeit, in der Mitte steht ein Tisch mit kariertem Wachstuch, darauf ein kleiner Blumenstrauß. Manchmal sitzen die Leute, wie in Hultschin, nur auf ein paar einfachen Bänken und wärmen sich, bis der kleine Zug mit seinen vier roten Waggons in den Sackbahnhof rollt.
    Gut zwanzig Minuten dauert die Reise durchs Hultschiner Ländchen nach Krawarn, sie kostet dreiundzwanzig Kronen, knapp einen Euro. Große Büsche ragen nahe ans Bahngleis und ans Zugfenster
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