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Lesereise Tschechien

Lesereise Tschechien

Titel: Lesereise Tschechien
Autoren: Klaus Brill
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provinziell zum Beispiel, als plebejisch, stur oder opportunistisch. Stolz sind die Tschechen auf ihre attraktiven Frauen, ein Scherzwort lautet: Česká holka, hezká holka (Tschechisches Mädchen, schönes Mädchen). Tschechien ist deshalb eine Großmacht nicht nur in der Automobilproduktion, im Eishockey und im Bierkonsum, sondern auch im internationalen Model-Business.
    Vor allem hält sich die kleine Nation im Herzen Europas etwas zugute auf ihren Eigensinn und ihr Beharrungsvermögen. Hätten diese Eigenschaften nicht über Jahrhunderte ihre Wirkmächtigkeit entfaltet, so gäbe es Tschechien wahrscheinlich gar nicht als unabhängigen Staat. Jan Hus, der große Reformator, der Europas erste Revolution entfesselte, ist der bekannteste der Volksführer, die diese tschechische Widerborstigkeit formten.
    Später waren es zwei Sprachforscher und ein Historiker, die im 19. Jahrhundert die Grundlage für das nationale Aufbegehren gegen die seit 1526/27 als Könige von Böhmen herrschenden Habsburger in Wien schufen. Der Priester Josef Dobrovský schrieb eine tschechische Sprachlehre und Grammatik in dem Bemühen, das Tschechische noch einmal zu kodifizieren, ehe es vor dem damals bestehenden Übergewicht des Deutschen kapitulieren müsste. Die Sorge war nicht grundlos, wie der Untergang der Elbslawen im Osten Deutschlands belegt. Erhalten haben sich dort nur die Sorben, von der Existenz der Wenden, Abodriten und Liutizen zeugen nur noch Orts- und Eigennamen. Dobrovskýs Schüler Josef Jungmann schuf ein tschechisch-deutsches Wörterbuch, und der Historiker František Palacký wurde mit einem epochalen Werk über die »Geschichte von Böhmen« zum Führer der tschechischen Nationalbewegung. Die Schriftstellerin Božena Němcová tat mit dem Roman »Babička« (Die Großmutter), einer Dorfidylle, das Ihre als literarische Dreingabe dazu. Und die Komponisten Bedřich Smetana (1824–1884) und Antonín Dvořák (1841–1904) steuerten die musikalischen Ingredienzien zu jenen Selbstvergewisserungen bei, die das Aufbegehren unterfütterten und schließlich nach dem Ersten Weltkrieg in der Gründung der unabhängigen Tschechoslowakei unter dem Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk mündeten.
    Fast alle diese Heroen, deren Namen viele Straßen und Plätze im Lande schmücken, stammen aus kleinen Dörfern. Die Dorfkultur hat einen hohen Rang, denn die allermeisten Tschechen lebten bis zur Industrialisierung auf dem Land. Aus dieser Wahrnehmung heraus wuchs auch die Empfindung, die eigene Heimat sei ein kleines, oft missachtetes und von außen fremdbestimmtes Land zwischen den Kolossen Österreich-Ungarn, Deutschland und Russland. Man sublimierte die empfundene Ohnmacht durch Humor, durch Zurückhaltung und manche kleine List. Dies kommt in literarischen Werken – vorweg natürlich der Geschichte vom braven Soldaten Švejk – ebenso zum Ausdruck wie in den berühmten Kinderfilmen der siebziger und achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts.
    Man rieb sich an den deutschsprachigen Nachbarn, die lange dominierten. Sie lebten seit dem Mittelalter ja auch im Land, von Böhmens Herrschern als Siedler gerufen. Es entwickelte sich ein fruchtbares Mit- und Nebeneinander, das immer wieder auch ins Gegeneinander umkippte. Und alles endete 1945/46 mit der Vertreibung der drei Millionen deutschsprachigen Bewohner, der sogenannten Sudetendeutschen. Es war ein Racheakt, den die Untaten der Nazis auslösten. Im Kommunismus war das Thema tabu, erst in den vergangenen Jahren haben junge tschechische Heimatforscher und Historiker diesen Abschnitt der Vergangenheit aufgegriffen und die Gewalttaten gegen die einstigen Mitbewohner untersucht. Die Gesellschaft diskutiert sie nun immer lebhafter, und deshalb werden sie auch in diesem Buch berücksichtigt. Auch andere aktuelle Themen finden ihren Niederschlag, zum Beispiel die Skepsis mancher Tschechen gegenüber der Europäischen Union oder die Umsteuerung der Wirtschaft nach dem Kommunismus auf den freien Markt.
    All diese einzelnen Beiträge sind in den Jahren 2005 bis 2011 als Korrespondentenberichte für die Süddeutsche Zeitung entstanden, und ich danke den Kolleginnen und Kollegen der betreffenden Ressorts für ihre Zusammenarbeit. Für diese Publikation habe ich die Texte überarbeitet. Ein wichtiger Teil des Landes indessen fehlt – die Hauptstadt Prag. Sie ist ein eigener Kosmos, über den ich in der Reihe Picus Lesereisen einen eigenen Band mit dem Titel »Auf der Karlsbrücke nachts um halb
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