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Lesereise Tschechien

Lesereise Tschechien

Titel: Lesereise Tschechien
Autoren: Klaus Brill
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Gymnasiasten in Louny sowie in den benachbarten Städten Kadaň, Chomutov und Ústí nad Labem dabei, die Verfolgung, Enteignung und Vertreibung jener Deutschen zu untersuchen, die bis 1945 als Nachbarn in ihren Städten lebten und die man meist Sudetendeutsche nennt.
    Die genannten Städte hatten damals auch deutsche Namen: Laun, Kaaden, Komotau und Aussig. Und sehr viele ihrer Einwohner waren Nachfahren jener Deutschen, die seit dem hohen Mittelalter, vor allem im 18. Jahrhundert, auf Einladung der Regenten ins Königreich Böhmen zugewandert waren. Das Zusammenleben war nicht konfliktfrei, und im Zweiten Weltkrieg kam es an sein Ende. Nach dem Münchner Abkommen von 1938 und dem Einmarsch deutscher Truppen errichteten die Nazis ihr Terror-Regime auch in der aufgelösten Tschechoslowakei, die Tschechen sollten durch Assimilation, Zuchtwahl, Sterilisation, Vertreibung oder Ermordung als Volk ausgelöscht, ihr Lebensraum germanisiert werden. Darauf folgte nach Kriegsende eine blutige Revanche: die Vertreibung der drei Millionen Deutschen.
    Ein schwieriger Stoff für den Geschichts- und Sozialkundeunterricht. Bisher wurde dieser Zeitabschnitt in tschechischen Schulen meist nur unter dem Aspekt der deutschen Gräueltaten behandelt. Was danach mit den Deutschen passierte, war unter dem kommunistischen Regime tabu, und bis heute halten Parlament und Regierung in Prag an jenen Dekreten des Präsidenten Edvard Beneš fest, die 1945 die Verfolgung und Vertreibung der Deutschen legitimierten und straffrei stellten.
    Seit einiger Zeit aber greifen einzelne Politiker und Initiativ-Gruppen das Thema von Neuem auf. Sie veranstalten Diskussionen und Ausstellungen, befragen Historiker und Zeitzeugen. In Brünn und Aussig wurden Gedenktafeln errichtet, die an die deutschen Opfer tschechoslowakischer Gewalttaten nach dem Krieg erinnern. In Prag ehrte 2006 der damalige Ministerpräsident Jiří Paroubek, ein Sozialdemokrat, jene deutschen Antifaschisten, die 1939 den deutschen Truppen im Gegensatz zur Mehrheit ihrer Landsleute nicht zujubelten, sondern den Nazis Widerstand leisteten. Und in Aussig formierte sich das Collegium Bohemicum, das mit Unterstützung der Stadt und der Prager Regierung das deutsche Kulturerbe in den böhmischen Ländern pflegt und diesem Thema das dortige Museum widmen will.
    Dieses Collegium Bohemicum ist auch der Träger des Unterrichtsprojekts in den Gymnasien der vier nordtschechischen Städte. Die Ausführung liegt in den Händen der Initiative »Antikomplex«, einer Gruppe von Studenten, die inzwischen zu Doktoranden herangereift sind und die 2005 mit dem Projekt »Verschwundene Sudeten« bekannt wurden. Sie hatten das Schicksal jener Dörfer im Sudetengebiet dokumentiert, die nach 1945 neu besiedelt oder zerstört wurden. Das Buch darüber wurde ein Bestseller.
    Die Arbeit mit den Schülern in Louny, Kadaň, Chomutov und Ústí ist »etwas Neues für uns«, sagt Ondřej Matějka, der Geschäftsführer von »Antikomplex«. »Aber wir hoffen, dass die Zeit dafür jetzt reif ist.« Neu ist, dass jetzt nicht mehr nur das kulturelle Erbe, sondern auch die Todesmärsche und die Massaker an Deutschen nach Kriegsende untersucht werden, ein Thema, das viele Tschechen lieber weiter in der Versenkung sähen. Beim Gespräch in der Klasse 6A in Louny klingt dies durch, als die sechzehn- und siebzehnjährigen Schüler von Reaktionen ihrer Angehörigen auf das Projekt erzählen.
    Ein Mädchen berichtet, sein Urgroßvater sei von den Nazis im KZ Mauthausen ermordet worden, erst nach dem Tod der Urgroßmutter begann es, sich für die Sudetendeutschen zu interessieren. Und dann die Überraschung, »dass die Tschechen auch so was gemacht haben«. Ein Junge sagt, in seiner Familie herrsche die Überzeugung vor, die Deutschen wollten nur von ihrer eigenen Schuld ablenken und weiter durch ihr Geld ihren Einfluss in der EU geltend machen. Ein anderes Mädchen hörte von der Großmutter, diese habe einen sehr guten, angenehmen deutschen Lehrer gehabt, der von den Nazis weggebracht worden sei. Und dann ist da ein Vater, der das Forscherinteresse seiner Tochter vorbehaltlos unterstützt.
    Vergangenheitsbewältigung kommt nur in kleinen Schritten voran und hakt sich oft an Widersprüchen fest. Als 2009 in Lidice der siebenundsechzigste Jahrestag der Auslöschung dieses Dorfes durch die Nazis im Juni 1942 begangen wurde, gab sich Staatspräsident Václav Klaus ganz und gar nicht versöhnlich: »Im Denken und Fühlen der damaligen
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