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Lesereise Schweiz

Lesereise Schweiz

Titel: Lesereise Schweiz
Autoren: Beate Schuemmann
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Im Alter von fünfundzwanzig Jahren landete er wegen seines pädophilen Verhaltens im Gefängnis. In Isolationshaft fertigte er einige Hundert Zeichnungen an.
    Der Italiener Carlo, Jahrgang 1916, gab früh die Schule auf und verdingte sich als Landarbeiter. Er war kein Menschenfeind, doch zog er die Einsamkeit und die Gesellschaft eines Hundes vor. Angst- und Wahnzustände brachten ihn in ein psychiatrisches Spital, wo er sich ausschließlich dem Zeichnen widmete. Reinhold Metz (1942), ein Drucker aus Karlsruhe, brachte seine übertriebene Verehrung von Cervantes und seines »Don Quijote« dazu, handgeschriebene, illustrierte dreihundertseitige Exemplare des Textes anzufertigen – ohne maschinelle Hilfe.
    Der Trödelhändler Pascal Maisonneuve (1863–1934) aus Bordeaux war als notorischer Nörgler, Anarchist und Kirchenfeind stadtbekannt und gemieden. Im Alter von vierundsechzig Jahren begann er, Politikerkarikaturen aus Muscheln zusammenzusetzen. Einer dieser exotischen Muschelköpfe ist das Emblem der Collection de l’Art Brut, die jährlich rund dreißigtausend Besucher sehen. »Wichtig ist nicht die Zahl. Wichtig sind die Zeit und die Intensität, die sie unserer Sammlung schenken«, sagt Thévoz. Auch für ihn steht an erster Stelle, dass die Besucher aus Interesse und nicht aus kultureller Pflichterfüllung kommen. »Die meisten reagieren mit Überraschung und Begeisterung, ganz wenige fühlen sich angewidert, und nie geht jemand gleichgültig hinaus.«
    Wenn es nach Michel Thévoz geht, soll Art brut mit dem, was das Abendland als seine »Kultur« bezeichnet, aufräumen. Er will, dass der Betrachter genau hinschaut und das, was ihm als »normal« erscheint, in Zweifel zieht. Die einfache, schnelle Rezeption der Bilder ist auch kaum möglich. Art brut zwingt zum genauen Sehen, zum Hineindenken in einen diffizilen Charakter mit einer ungewöhnlichen Lebensgeschichte.
    Die Collection l’Art Brut besteht seit 1976. Sie hätte zumindest schon mal ihr fünfundzwanzigjähriges Bestehen feiern können. Doch solche Feiern werde es nicht geben, so Thévoz. »Wir sind ein Anti-Museum, und das in jeder Hinsicht. Wir feiern die Art brut jeden Tag, nicht nur alle fünfundzwanzig Jahre.«

Balgerei im Sägemehl
Auf der Rigi ringen Männer um Eichenlaub
    »Schwinger-Chkooffi!?«, »Schwinger-Chkooffiiii!?«, rufen die ambulanten Austräger, die heißen Kaffee mit Apfel- oder Birnenschnaps aus der Thermoskanne verkaufen. Die Sitzreihen der Open-Air-Arena unterhalb des achtzehnhundert Meter hohen Rigi-Gipfels füllen sich mit Zuschauern. Holzbänke sind um drei kreisrunde Felder aus gelbem Sägemehl aufgestellt. Ein Logenplatz, vor dem die Innerschweiz ihr herrliches Bergpanorama ausbreitet. Auf dem Festgelände sind Alphornbläser und Fahnenschwinger im Einsatz. Die Schweizer Flagge flattert im Föhn, neben ihr ragt ein geschmücktes Bergkreuz auf. Im Hintergrund verkehrt die rote Rigi-Zahnradbahn, die im Sondertakt Besucher nach oben bringt.
    Ob der Berg zwischen Luzern und Schwyz namens Rigi nun die oder der Rigi heißt, darüber sind viele uneins. Der Dichter Mark Twain schrieb immer der Rigi. Die britische Queen Victoria, die viele Sommer hier verbrachte, machte es sich leicht und sagt einfach the . Vermutlich ist die richtig, weil Rigi sich von »reginam montium« ableitet, Königin der Berge. Seit der Romantik steht dieser hohe Aussichtsberg am Vierwaldstätter See im Ruf, dass der Sonnenaufgang nirgends schöner sei als hier. Nur, wie kam man rechtzeitig vor der Sonne hinauf?
    Der deutsche Ingenieur Niklaus Riggenbach löste das Problem mit seiner patentierten Zahnradbahn, die 1871 von Vitznau bis Staffelhöhe in Betrieb ging. Vier Jahre später folgte die Arth-Rigi-Bahn und 1968 die Luftseilbahn Weggis–Kaltbad. Die Träger, die die Touristen zuvor in Tragsesseln den Berg hochgeschleppt hatten, wurden mit der modernen technischen Errungenschaft endgültig arbeitslos.
    Jeden ersten Sonntag im Juli fährt die erste Bahn schon um 5.55 Uhr in Vitznau ab. Trotz der Frühe sind die Waggons voll belegt mit Touristen und jungen Kerlen, hünenhaften Gestalten mit stämmigem Körperbau, die nichts so leicht umhaut. Auch diese durchtrainierten Muskelpakete sind froh, dass sie in dreißig Minuten hinaufkommen, ohne nur eine Zehe zu bewegen. Denn alle wollen zum jährlichen Schwing- und Älplerfest auf den Rigi Staffel, dem berühmten Bergfest mit Schwingwettkampf, Steinstoßen und dem Alpaufzug der Sennen.
    Die Besucher haben
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