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Lesereise Schweiz

Lesereise Schweiz

Titel: Lesereise Schweiz
Autoren: Beate Schuemmann
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Berge nur, wer unbedingt musste. So stießen sich fremde Einflüsse lange an den Bergkuppen die Nase, und das Appenzell veränderte sich kaum. Den Lebenstakt bestimmten Heugabeln und Sensen. Brauchtum und Traditionen erwiesen sich als dauerhafter als anderswo. Tracht gehört zum Alltag, bei den Älteren sowieso, aber auch bei den Jüngeren. Beim rechten Mann hängt das Landauerli im Mundwinkel. Wenn es ausgeraucht ist, möglichst verkehrt herum. Dort bleibt die kleine schwarze Pfeife mit dem silbernen Deckel, bis sie wieder angezündet wird. Und manch Junger findet das kultig. Zusammen mit dem Ohrschuefe , dem goldenen Gehänge der Männer, zählt das Landauerli zu den unentbehrlichen Alltagsutensilien des typischen Appenzeller Bauern. Auch die sprichwörtliche Eigenwilligkeit lässt sich geografisch erklären. Selbst in der Schweiz gilt der Appenzeller als kauzig, kantig, verschroben, aber er ist auch mit einer gesunden Portion Humor ausgestattet – ein Original eben.
    Zur Tradition gehörte noch bis zum ausgehenden 20. Jahrhundert, dass Politik reine Männersache war. Überall in Europa übten Frauen längst das Wahlrecht aus. In ganz Europa? Nein! Das kleine Appenzell sträubte sich. Jährlich versammelten sich die männlichen Stimmberechtigten zur so genannten »Landsgemeinde«, die über dem kantonalen Parlament stehend das oberste bestimmende Organ im Kanton ist. Sie stimmten unter freiem Himmel per Handheben über ihre Interessen ab. Frauenrechte interessierten nicht. Mit grimmiger Entschlossenheit hatte sich das starke Geschlecht über Generationen hinweg auf der Landsgemeinde alljährlich im April gegen das Stimm- und Wahlrecht von Frauen gewehrt und sie vom politischen Geschehen im Kanton ausgeschlossen. Wiibervolch auf der Landsgemeinde – das hielten viele in der Region für Frevel.
    So kam der Kanton, der sich in Appenzell Innerrhoden und Appenzell Außerrhoden gliedert, zum Ruf eines »Volkstumsreservats« von frauenfeindlichen Querulanten. Erst 1989 führte der evangelische Halbkanton Außerrhoden das Frauenstimmrecht ein. Ein Jahr später unterwarf sich der katholische Bruderkanton Innerrhoden. Die letzte Schweizer Bastion der Männerherrschaft fiel. Allerdings nicht ganz freiwillig. Ein Bundesgerichtsentscheid zwang 1990 die letzten Widerständler, das 1971 auf eidgenössischer Ebene beschlossene Frauenstimmrecht einzuführen – gegen den erklärten Willen der männlichen Stimmbürger in Innerrhoden. Als wenig später gleich zwei Ministerposten am Herisauer Regierungssitz von Frauen besetzt wurden, kam das einer politischen Zeitenwende gleich.
    Der Streit um die Damenwahl ist mittlerweile vergessen. Friedlich grast überall das Braunvieh auf den Wiesen. Das Gebimmel der Schellen ist kuhlängenweit zu hören. Beim Anblick des »melchigen« Grases denkt man unwillkürlich an den Duft von Käse, des Appenzellers. Doch von der fortschreitenden Zurückdrängung der Alpbewirtschaftung blieb auch das Appenzell nicht verschont. Kaum einer der Alpbauern verkäst noch oben am Berg die Milch. Die Metamorphose vom satten Gras bis zur endlosen Produktpalette im Supermarkt kann man im Appenzeller Volkskunde-Museum in Stein nachvollziehen. Eine nachgestellte Alpkäserei versetzt den Städter in die traditionelle Arbeitswelt der Sennen zurück. Gleich nebenan stellt sich die moderne Schaukäserei dem Vergleich. Statt Holztanze , Kessi und geküferten Käseformen regiert hier der sterile Edelstahl, statt der braunen Ladenhose der weiße Kittel. Strom hat die Holzfeuerung vertrieben. Hightech auf Knopfdruck. Die Romantik hat den Ansprüchen an Hygiene und Wirtschaftlichkeit Platz gemacht. Nur das Braunvieh wird noch wie vor siebenhundert Jahren jeden Sommer auf die Alpen gebracht. Ihre Milch bringt der Bauer in Kannen zum Stand an die Straße, wo Tankwagen sie abholen und in die modernen Käsereien bringen. Dort entstehen mehrere Millionen vollfette und viertelfette originale Appenzeller Käse.
    Wie überall, wo man am Alten hängt, wird viel gefeiert. Folklore und Feste prägen immer noch den Jahreskalender. Höhepunkt im Leben der Sennen sind die Alpfahrten zweimal im Jahr. Der sommerliche Weidegang beginnt nach altem Brauchtum im Mai mit einem festlichen, choreografisch geordneten Aufmarsch. Vorneweg die Ziegen, die von einem Jungen in Senntracht getrieben werden. Der Senn folgt im Feststaat, einer schmucken roten, fein bestickten Tuchweste, weißem Hemd, knallgelben Knielederhosen und messingbeschlagenen
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