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Lesereise Paris

Lesereise Paris

Titel: Lesereise Paris
Autoren: Rudolph Chimelli
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nur noch eine Handvoll Caféterrassen, wo er sich niederlassen könnte. Die meisten sind Hamburger-Lokalen gewichen oder den Schnellrestaurants französischer Billigketten, die ein Standardmenü bieten: immer eine Variante von Salat, Steak mit Pommes frites, Dessert. Erst blieben die Pariser weg, dann die betuchteren Touristen. Es kamen Provinzler, Jugendliche aus den Vorstädten, Gammler und Gauner. Den Boutiquen, die sich in den Passagen auftaten, geht es nicht gut. Aber selbst in den Drei-Sterne-Restaurants an anderen Stellen der Stadt ist die Welt nicht mehr ganz in Ordnung. Ein Gastronomiekritiker bemängelte jüngst, dass bei allem Aufwand für Bedienung, Geschirr und Ausstattung nirgends mehr die Serviette nach dem Fischgang gewechselt wird. »Noch beim Käse kann man Austerngeruch oder Hummersplitter unter die Nase kriegen«, sagte er.
    Von solchen Sorgen wusste Abdul Asis Ibn Saud nichts. Der Vater des Königs, der sich sein Versailles II in die Wüste baute, fand seine Freude bei der Falkenjagd oder an der kühlen Brise, die sich erhob, wenn er bei Sonnenuntergang am Rande von Riad in die Wüste blickte. Dafür konnte sich der Mann, der aus einer bescheidenen Stammesherrschaft ein Reich machte, den Luxus großer Gefühle leisten. Als sein Lieblingssohn Turki starb, schloss er sich drei Jahre ein, um zu trauern. Und noch am Ende eines langen Lebens, in dem es an Macht, Frauen und immer mehr Reichtum nicht gefehlt hatte, dachte Abdul Asis Ibn Saud voller Wehmut daran, dass er nie so glücklich war wie mit Turkis Mutter, seiner ersten Frau.

Wo ist die Lebenslust?
Tabletten und Tristesse
    »Prozac, alle verlangen heute Prozac«, sagt Madame Tonnelier. »Es ist keins mehr da!« Ihre Apotheke liegt in der Nähe des Elysée und des Innenministeriums. Aber die Inhaberin behauptet nicht, dass die Kunden für das beliebte Medikament gegen Depressionen in erster Linie von dort kommen. Der Run auf Psychopharmaka hat das ganze Land erfasst. Im Jahr kaufen die Franzosen weit mehr als zweihundertfünfzig Millionen Schachteln mit fast fünf Milliarden Pillen gegen Nervosität, Lebensangst oder andere seelisch bedingte Leiden. Ihr Verbrauch an Beruhigungsmitteln ist bei Weitem der höchste in Europa, mehr als das Dreifache dessen, was Briten oder Deutsche schlucken. Und niemand weiß wirklich, warum.
    Über die Gründe gebe es merkwürdig wenig Untersuchungen, stellt Professor Edouard Zarifian von der Universität Caen in einem Bericht für den Gesundheitsminister fest. Die Daten des Psychotropen-Marktes sind besser geschützt als militärische Geheimnisse. Man weiß immerhin, dass zweihunderttausend Personen in Abhängigkeit von Lachpillen leben. Jeder neunte Erwachsene nimmt davon mindestens einmal in der Woche. Unter den Frauen über sechzig Jahren sind dreißig Prozent regelmäßig Konsumentinnen, von den Arbeitslosen siebenundfünfzig Prozent. In Orten mit weniger als fünftausend Einwohnern ist der Verbrauch am größten.
    Für diese alarmierenden Daten aus dem Land der Lebenskünstler und Genießer macht der Psychiater Zarifian in erster Linie die Hersteller der Antidepressiva verantwortlich. »Zeitschriften, Kolloquien, Kongresse werden entweder von der Pharmaindustrie organisiert oder finanziell gefördert«, heißt es in dem Bericht. Die Fortbildung der Ärzte erfolge »ausschließlich durch Quellen, die von der Industrie kontrolliert werden, bei Fehlen von objektiven akademischen Referenzen, die im Widerspruch zur Werbebotschaft stehen könnten«. Es geht um einen Markt von einer halben Milliarde Euro im Jahr.
    Unter dem doppelten Druck von Produzenten und Patienten müsse ein Arzt ein Held sein, wenn er der Versuchung widerstehen wolle, systematisch zu verschreiben, meint Zarifian. Hinzu komme, dass »zwischen zahlreichen Meinungsführern im akademischen Bereich und der Pharmaindustrie enge Beziehungen bestehen«. Dadurch erhalte die Reklamebotschaft höhere Weihen und zusätzliche Glaubwürdigkeit. Es bestehe indessen das Risiko, dass mit der allgemeinen Verbreitung solcher Drogen die Nachteile größer würden als ihre Wohltaten.
    Der Soziologe Alain Ehrenberg sieht den Grund, weshalb so viele Franzosen sich mit chemischen Prothesen ausrüsten, im gestiegenen Erwartungsdruck. »Sogar, wenn jemand sich nur um eine untergeordnete Stelle bewirbt, soll er selbständig sein, effizient, dynamisch, motiviert.« Gesellschaftliche Probleme, die vor zwanzig Jahren politischen Ausdruck gefunden hätten, würden heute in
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