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Lesereise Paris

Lesereise Paris

Titel: Lesereise Paris
Autoren: Rudolph Chimelli
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psychischen Kategorien von Angst und Depression gesehen: Deshalb die Welle von psychopharmazeutischer und Psychotherapie.
    In Frankreich praktizieren sechstausend Psychiater; sechsunddreißigtausend katholische Priester zelebrieren die Messe. Aber es gibt noch andere Helfer gegen Seelennöte. Fast fünfzigtausend Französinnen und Franzosen meldeten beim Finanzamt im vergangenen Jahr Einkommen als Hellseher, Astrologen, Medien und Glaubensheilkundige an – mehr als je zuvor. Im Land des Logikers René Descartes (»Ich denke, also bin ich«) ist vier Jahrhunderte nach dessen Geburt das Irrationale auf breiter Front im Vormarsch. Laut Umfragen glauben mehr Leute als vor zehn Jahren an den Teufel. Afrikanische Marabuts, die ihre Zauberkunst mit Flugblättern an Metrostationen anpreisen lassen, haben regen Zulauf – auch bei angestammten Franzosen.
    Zarifians einzige gute Nachricht lautet, aus der übermäßigen Verbreitung von Psychopharmaka ließen sich »keine Schlüsse auf die geistige Gesundheit der Franzosen« ziehen. Am häufigsten werden die Medikamente Temesta und Lexomil, Imovane, Stilnox und Rohypnol verschrieben. Sie kommen auf jedem siebenten Rezept vor. In vier Fünfteln aller Fälle verordnet sie der Hausarzt. Madame Tonnelier hat in ihrer Apotheke Kunden, die mit Rezepten für die relativ neue Wunderdroge Prozac inzwischen auch vom Veterinär kommen. Sie bewährt sich bei Hunden, die zu unruhig sind, aggressiv oder aufsässig gegen ihren Herren. Auch von Hunden, die viel bellen, sich ständig kratzen oder sich durch zwanghaftes Lecken selber Schwären beibringen, wird Prozac gern genommen.

Abendrot im Osten
Und überall ist Tokio
    Von hinten schaut er aus wie Manet bei der Arbeit. Ein weicher Strohhut bedeckt sein Haupt. Sein Nackenhaar fällt auf einen blauen Kittel. Was er auf der Staffelei hat, ist allerdings mehr Utrillo: eine holprige Montmartre-Gasse mit winkeligen Häusern und droben auf der Höh’ natürlich Sacré-Cœur. Von Zeit zu Zeit nimmt er einen teuren Kontaktfeldstecher, der um seinen Hals baumelt, um ein Detail deutlicher zu erfassen. So etwas tut kein Impressionist, nicht einmal ein sehr später. Dafür wird das Produkt echter als das Original. Das war schon immer so bei den Japanern, die heute zu Dutzenden die Perspektivpunkte der Butte und anderer Malerwinkel von Paris besetzen. Ihre Kleider, ihre Ausrüstung, ihre Bilder sind stilecht, vielleicht ein bisschen zu ordentlich. Aber den Hauch von Schlamperei, der zur Vollkommenheit gehört, werden sie wohl auch noch lernen.
    Da kämpft die Regierung gegen japanische Elektronik, Autos und andere Windmühlenflügel der Überfremdung, und derweil dringt der Feind schlitzäugig durch sämtliche Hintertüren ein. Der Feind? Das authentische Paris kann ohne seine Asiaten kaum mehr auskommen. Im Konservatorium stellen sie die stärkste Ausländerfraktion: »Sie kommen an, können kein Wort Französisch, arbeiten Tag und Nacht, und nach sechs Monaten haben sie das Wesen westlicher Musik erfasst«, sagt ein Professor. Die Prêt-à-porter -Woche wird oft durch japanische couturiers , von denen es inzwischen ein halbes Dutzend gibt, eröffnet und beschlossen. Einige alteingesessene Parfumeure gehen so weit, ihren neuen Erzeugnissen durch Namen und Aufmachung den Anschein zu geben, es seien die Strahlen der aufgehenden Sonne auf sie gefallen.
    Nun hat eine Tokioter Konfektionsfirma auch noch die Hälfte des Aktienkapitals von André Courrèges gekauft. In der Modebranche kann das Abendrot auch im Osten stattfinden.

Sicherheit im Teller
Vom schnellen Altern der »nouvelle cuisine«
    Die letzten Modetipps aus Paris sind kategorisch: Erdbeeressig ist passé; auch Kürbisessig, Himbeeressig wird nicht mehr aufgetragen. Gault und Millau wurden gesehen, wie sie in einer brasserie , wo es rundum deftig roch, bœuf bourguignon bestellten und am Ende noch die dicke dunkelbraune Sauce mit Weißbrot auftunkten. Die Bandnudeln hatten sie schon vorher gegessen.
    Liegt es an der Krise, dass die Leute die farbenfrohen Überraschungsteller der nouvelle cuisine nicht mehr wollen und statt dessen alterprobtes Nahrhaftes verlangen? Was gäbe mehr Sicherheit als eine warme, gut gefüllte Terrine? Die Küchenrevolution dauerte genau zehn Jahre. Paul Bocuse, die Brüder Troisgros, Alain Chapel und Michel Guérard hatten die Lehre vom Frischen, Kurzgekochten, Originellen, hübsch Anzuschauenden 1970 kreiert. Die Abenddämmerung setzte 1980 ein, als einer der
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