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Lesereise Normandie - der Austernzüchter lädt zum Calvados

Lesereise Normandie - der Austernzüchter lädt zum Calvados

Titel: Lesereise Normandie - der Austernzüchter lädt zum Calvados
Autoren: Picus-Verlag
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Reichtum.
    Gelegentlich sah er von der Arbeit auf und blickte auf den Schiffsverkehr auf der Seine. So nahe liegt der Pavillon am Ufer, dass das Licht des arbeitenden Schriftstellers Kapitänen an finsteren Abenden den Leuchtturm ersetzte. Aber auch für Flaubert war die Nähe zum Fluss wichtig. Jeden Morgen schwamm er in der Seine, während sein Diener im Boot den Strick hielt, den er sich zur Sicherheit um den Bauch gebunden hatte. 1872 starb Madame Flaubert und hinterließ das Haus in Croisset ihrer Enkelin Caroline; Flaubert selbst erhielt ein lebenslanges Wohnrecht. Fortan lebte er hier mit seiner Nichte, die er nach dem frühen Tod seiner Schwester aufzog.
    Als ein Sägewerk, in das er investiert hatte, pleiteging, wurde es für den Schriftsteller finanziell eng. An jenem Samstag, als Flaubert tot im Haus in Croisset gefunden wurde, lag vor ihm der geöffnete Brief des Gerichtsvollziehers. Aus ihm ging hervor, dass das Anwesen an der Seine unter den Hammer musste. Wegen des unzeitigen Verkaufs ist von dem Haus, in dem später eine Destille, dann eine Papierfabrik ansässig war, nur der Gartenpavillon mit einigen Gegenständen aus seiner Habe wie dem Tintenfass und einem ausgestopften Papagei geblieben. In dem Raum können die Besucher heute Flauberts gedenken und seinen Blick auf die Seine teilen. Der Fluss ist indessen das Einzige, das von der einstigen ländlichen Idylle geblieben ist. Am anderen Ufer rauchen Fabrikschlote. Wo sich früher grüne Auen erstreckt haben mögen, liegen heute Lagerhallen, Kräne, Container und Fabriken. Durch Emissionen gefilterte Sonnenstrahlen tauchen die Szenerie in warmes, versöhnliches Licht.
    Dabei ist die Normandie reich an Landschaften, die ihren Zauber ganz ohne Smog verströmen. Der Sprengel Lyons-la-Forêt kann zwar keine direkte Verbindung zum berühmtesten normannischen Literaten nachweisen. Dafür wohnte hier immerhin Maurice Ravel (1875–1937). Mehrmals kam der Komponist her, um im Haus seiner Patin abzuschalten und in ländlicher Ruhe die Melodien in seinem Kopf zu ordnen. Heute ist das Anwesen mit dem weitläufigen Park das Ferienhaus einer Pariser Familie.
    Die prachtvollen alten Fachwerkhäuser von Lyons-la-Forêt und die Hauptstraße, die sich einen Hang hinaufwindet, bevor sie sich auf die Place Banserade mit der überdachten Markthalle aus dem 17. Jahrhundert öffnet, sind zudem von so friedlicher Schönheit, dass »Madame Bovary« hier gleich zweimal verfilmt wurde: 1932 drehte Jean Renoir in dem Dorf eine Szene, 1990 Claude Chabrol alle Außenaufnahmen seiner Verfilmung mit Isabelle Huppert. Zeitungsausschnitte und ein Ordner mit Fotos erinnern im Tourismusbüro im einstigen Kerker des Städtchens noch an die turbulenten Monate, als die Filmcrew aus Paris in das Dorf einfiel. Alle Indizien aufs 20. Jahrhundert wurden aus dem Stadtbild entfernt und sogar die Straßenbeläge sorgsam mit Sand abgedeckt. Geblieben ist außer Ruhm und hohen Immobilienpreisen der kleine Brunnen auf dem Marktplatz, der in die Filmkulisse eingefügt und anschließend dagelassen wurde.
    Während sich Lyons-la-Forêt bei der Vermarktung der Bovary-Verbindung in vornehmer Zurückhaltung übt, liefert das kleine Ry den endgültigen Beweis der These, dass das Leben die Kunst imitiert und nicht umgekehrt. In Ry, dessen Name alleine eine Verbindung zur Protagonistin des Romans gestattet, lebte zu Flauberts Zeit die unglückliche Delphine Delamare. Sie heiratete einen Landarzt, bekam mit ihm eine Tochter, begann eine Affäre, verschuldete sich und beging Selbstmord mit dem Gift, das sie sich in der Apotheke schräg gegenüber beschafft hatte. Dass ihr Mann, der bald nach dem Tod Delphines an gebrochenem Herzen starb, ein ehemaliger Student von Flauberts Vater und die beiden Familien daher miteinander bekannt waren, erschwert die Beweislast zusätzlich. Als sicher gilt, dass Flaubert von dem Fall in der Zeitung las; es gibt jedoch keinen Hinweis darauf, dass er jemals in Ry war.
    Das Siebenhundertfünfzig-Einwohner-Dorf, das im Wesentlichen aus der Hauptstraße Grand’ Rue besteht – »einen Büchsenschuss weit, gesäumt von der Kirche, dem Friedhof, der Apotheke, dem Rathaus und einem Gasthaus«, wie es im Roman über ihr Dorf Yonville-l’Abbaye heißt –, lebt heute nicht schlecht von seiner Überzeugung, Heimat der »wahren« Madame Bovary zu sein. Der Kurzwarenladen heißt »Emma«, das Restaurant neben der Markthalle »Le Bovary«. Dass das Viertel, in dem das zweite, kleinere
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