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Lesereise Normandie - der Austernzüchter lädt zum Calvados

Lesereise Normandie - der Austernzüchter lädt zum Calvados

Titel: Lesereise Normandie - der Austernzüchter lädt zum Calvados
Autoren: Picus-Verlag
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Geistige Höhenflüge und erschütternde Barbarei, Rauschzustände, Glück und Zerstörung. Die avantgardistische Architektur der Pfarrkirche will mit ihrem lang gestreckten Schieferdach auf den Mauern aus Beton an den Scheiterhaufen der Jungfrau von Orléans erinnern. Denn Rouen ist auch die Stadt, in der Jeanne d’Arc am 30. Mai 1431 auf dem Scheiterhaufen starb.
    Trotz des Erfolgs ihrer Bemühungen, die Engländer aus Frankreich zu vertreiben und den französischen Dauphin zum König seines Landes krönen zu lassen, verhedderte sie sich in den Intrigen und Wechselfällen des Hundertjährigen Krieges. Paris zu befreien, gelang ihr nicht; stattdessen fiel die durch religiöse Erscheinungen zu außergewöhnlichem Tatendrang motivierte Bauerstochter dem Herzog von Burgund in die Hände. Der verkaufte sie an die Engländer, die sie vor ein Kirchengericht stellten. Johanna wurde wegen Ketzerei, Mord – denn da sie als Frau kein Soldat sein konnte, galten die Verluste, die sie dem Gegner auf dem Schlachtfeld beibrachte, nicht als Heldentaten, sondern eben als Mord – sowie zahlreichen weiteren Verfehlungen der Prozess gemacht. Fünfundzwanzig Jahre nach ihrem Tod auf dem Scheiterhaufen wurde das Urteil revidiert und Johanna zur Märtyrerin erklärt. 1920 sprach der Vatikan sie gar heilig. Für die Jungfrau kam die Rehabilitierung zu spät, doch Frankreich hatte eine Nationalheldin gewonnen.
    Mit der Erinnerung an die Gräueltat auf dem Alten Markt versöhnen die »Larmes de Jeanne d’Arc«, die Tränen der Johanna. Der Schokoladenfabrikant Auzou stellt sie aus handgeschöpfter Schokolade her und verkauft sie in einem kleinen Geschäft in der Rue des Carmes, das geradezu betörend nach Pralinen duftet. Köstlich und süß schmecken sie und beweisen, dass sich in Frankreich fast alle Wechselfälle des Schicksals nach ein paar Jahrhunderten in kulinarische Freuden übersetzen lassen.
    Während Paris sich dank seines Hausarchitekten Haussmann in eine Metropole weiter, luftiger Boulevards verwandelte, blieb Rouen die Provinzhauptstadt enger, von Fachwerkhäusern gesäumter Gassen. Zwar wurde es später auch hier etwas luftiger. Doch noch immer öffnet sich der Blick auf die siebentürmige Kathedrale ganz unversehens. Hunderteinundfünfzig Meter ragt ihr Vierungsturm, der höchste Kirchturm Frankreichs, in den Himmel. Die Kathedrale ist das Herz Rouens, ein Prachtstück erhabener, emporstrebender Gotik und besitzt eine der schönsten Kirchenfassaden Europas. Kein Wunder ist es, dass Monet sie gleich achtundzwanzig Mal malte – aus drei verschiedenen Perspektiven. Letzteres diente nicht nur der Suche nach dem Blickwinkel, die ihr Wesen offenlegen würde. Es hatte auch damit zu tun, dass Monet mehrmals seinen Standort wechseln musste, weil er mit seiner ewigen Raucherei im Geschäft gegenüber die Kunden belästigte.
    Nicht zuletzt zählt die Kathedrale Notre-Dame de l’Assomption auch zu den Schauplätzen von Gustave Flauberts unsterblichem Roman »Madame Bovary«. So eint sie Religion, Geschichte, Kunst und Literatur. Dass nicht jeder Normandie-Reisende sie sieht, beweist, dass die Normannen nicht Unrecht haben, wenn sie gelegentlich seufzen, die meisten Urlauber verpassten neunzig Prozent der wahren Normandie.
    Um die strahlend bunten Fenster zu schützen, wurden sie gleich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs ausgelagert und erst in den fünfziger Jahren wieder eingesetzt. Das Kirchenschiff aber nahm während des Krieges beträchtlichen Schaden. Beim Einmarsch der Deutschen 1940 geriet ein Teil der Kirche in Brand. Bei der Befreiung vier Jahre später wurde sie neuerlich beschädigt. Fünfunddreißig Jahre sollte es dauern, bis alles wieder hergestellt war. Auch nach dem Weltkrieg drohte der Kathedrale bisweilen Gefahr. Am zweiten Weihnachtstag des Jahres 1999 verwüstete ein schwerer Orkan Rouen und mit ihm auch das Kirchenschiff Notre-Dames; außerdem machen Luftverschmutzung und saurer Regen dem Prunkbau zu schaffen.
    Notre-Dame ist Krönungsort und Grabstätte der schillerndsten normannischen Herrscher: Rollo, der erste Herzog, sein Sohn Wilhelm I. Langschwert und Richard Löwenherz, Herzog der Normandie und Aquitaniens, Graf von Anjou sowie zehn Jahre lang König von England, ruhen hier. Im Sarkophag des Letzteren befindet sich allerdings nur sein Herz. Der Sohn von Éléonore von Aquitanien und Heinrich II . von England, deren Ehe sich nach erstem Überschwang bald in ein Minenfeld verwandelt hatte, erwarb durch
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